„— — — — zum Kuckuck nochmal! Ich will es doch probieren, wer Meister ist; diese ewige Leier mit den frommen Märchen oder — mein eigenes junges Leben! Hm, A—d—v—e—.n—t? Im Advent wird nicht getanzt, sagt Mutter. Was kümmert’s mich?! Lange genug haben wir nichts gehabt von unserer Jugend. Immer im Gehölz dieses Bauernhauses musste ich mich bewegen, von früh morgens bis spät in die Nacht, im Stalle arbeiten, mähen, heuen … alle Knechtarbeiten hab ich tun müssen, weil die Buben eingerückt waren. Unsere Landwirtschaft ist nur klein, aber Arbeit gibt sie trotzdem genug. Der Vater ist immer im Bahndienst. Und — die paar Wochen in der Stadt, die haben mir grad auch noch genügt: Sirenengeheul! Luftschutzkeller! Keine Stunde bei Tag und Nacht war man sicher. Die Todesängste bei den furchtbaren Angriffen … Kurzum, nichts haben wir gehabt, sauber nichts! Die schönsten Jahre sind beim Teufel! Und jetzt will man es uns verwehren, zu leben? Aus-zu-leben? —Advent oder nicht Advent; heute Abend ist Tanz und — Herma Müller geht!“ Mit festem Schritt schnellt sie herum. Ein überlegenes, spöttisches Lachen. Und wieder steht sie vor dem Spiegel: „Dauerwellen? Wie waren sie mein Traum! Aber Mutter lässt es einfach nicht zu. Es sei schade um die langen Zöpfe — —. Schad? ’s ist nun einmal modern und dann tut man es. Warum sollen wir Mädchen vom Lande immer ein halbes Jahrhundert zurück sein? Und das Gezeter, das sie alle angestimmt haben! Sogar den Vater haben sie angebrummt und der hat es mir kurzweg verboten. Was nun? Alle Tage Krieg im Hause oder — nachgeben? Auf die Zähne gebissen und — nachgegeben! Aber nur nicht meinen, dass ich deshalb nicht mit der Mode gehe! Die Gretelfrisur mit stehenden Flechten! Ich finde, sie passt famos zu mir! Etwas Originelles wird auch locken: es muss gar keine Dauerwelle sein … Viertel vor acht! Schnell! — Wo?“
— — — Dachboden — Heustock — Stadeltor — — —
Haaa —! Es hat geklappt! Jetzt nur tief atmen. Und — vorwärts! Doppelt wert ist so ein Tanzabend, zu dem man heimlich durchgebrannt ist! —
„Herma“ eine ernste Stimme hat’s gerufen. Wo? Ach was, Grillen! — Voran!
„Servus, Herma! Hast es geschafft? Prima! Bist ein Tausendskerl! Du, eine große Schar kommt vom Bahnhof; ich glaub’, heut wird’s einzig. Fast zu klein wird unser Tanzsaal. So einen Zulauf haben wir zu unserm Lokal. Hilda plaudert es triumphierend. Herma packt sie am Ärmel. Will sie ihr was sagen?— — —
Leuchtender Saal. — Musik. — Wirbelnde Paare. — Alle aus dem gewöhnlichen Volke. Merkwürdig, dass es alle hierher nach Gumpendorf zieht! — Sodoma hat man es auch schon genannt. — —
„Hurra, Sieglind!“ Herma jauchzt es ihrer Kollegin zu. „Donnerwetter, die hat Feuer heut!“ denkt Sieglind, die Verkäuferin aus der Nachbarstadt und lässt sich von ihrem Partner durch die Paare schwingen. — Glühende Wangen. — Tolle Tänze. — Heiße Stunden. — Wie sie verrinnen!
Draußen am winterlichen Himmel verblassen die Sterne. Über die Stirne der verträumten Berge kriecht scheu das Morgengrauen. In der Dorfkirche drüben lauten sie das sonntägliche Ave Maria. Still und ernst kommen die ersten Beter zum Gottesbaus. Der Josef und der bärtige Ferdl und ein paar alte Jungferlein. Etliche Frauen rutschen nach und jetzt mehr und mehr. Es sind alle diejenigen, die während des Hauptgottesdienstes kochen müssen und andere wichtige häusliche Arbeiten haben. Die Frühmesse beginnt. Evangelium — Offertorium — Wandlung — und noch immer knarren heute die Kirchtüren.
„So eine Unordnung!“ schimpft die alte Kreszenz vor sich hin. Da kommt es ihr in den Sinn, dass sie das große Plakat vom Tanz gesehen hat. „Ach, du lieber Gott, wie sind d’Lüt hüt so schlecht!“ Sie klagt es dem Herrgott dort auf dem Altar. Hinter ihr aber schlüpfen sie fortwährend durch die Tür, jene Gattungen von Tanzenden, die von Vater und Mutter noch um den sonntäglichen Kirchenbesuch gefragt werden. Herma ist auch dabei. Sie sieht nichts vom vorwurfsvollen Geflamm der Adventkerze, hört nicht den Rorateruf der Orgel. Herma ist noch ganz beim Tanz. Das war eine Nacht! Wild und — heiß …
Heimlich, wie sie gestern Abend entwich, schleicht sie jetzt ins Haus. Wirft sich aufs Lager. So erschöpft war sie nicht einmal nach dem strengsten Arbeitstag. Was macht’s? Dafür hat man eben g-e-t-a-n-z-t …
Sonntag Nachmittag. „Herma! Warum hast du das getan?! Gestern Abend, Herma, hat unsere Mutter geweint.“ Mit zitternder Stimme sagt es die kleine Christl ihrer großen Schwester, packt sie in kindlicher Verdrossenheit am Arme und huscht rasch wieder durch die Tür hinaus. Herma gibt es einen Ruck. Die Mutter — geweint? Um — mich — geweint? — Einer Mutter Tränen …
Ach was, Rührseligkeiten! Weg damit! Abwehrend wirft sie ihren Kopf zur Seite, dass die Flechten über den Rücken schwingen. Sie muss sie heute hängen lassen, ihr Kopf schmerzt noch zu sehr von der tollen Nacht. Trotzdem will sie etwas lesen. Zerstreuung muss sie haben. Jetzt erst recht, da der Grünling einer Elfjährigen ihr Grillen in die Ohren jagen will. „Mädel im Sturm“, jawohl das! Krampfhaft presst sie ihre Fauste an die brummenden Schläfen und — liest.
Frau Veronika bereitet draußen in der Küche das Abendessen. Ihr sorgenvolles Antlitz ist seit gestern um einen Schatten bleicher geworden. Gut ist Mutter Veronika. Mit der letzten Faser ihres Seins opfert sie sich ihrer Familie. Ihre Güte strömt aus einem starken Herzen, das in gesundem Christentum verankert ist. Ordnung ist in ihrem Hause. Und über allem steht der Herrgott und sein Gebot. Keines ihrer fünf Kinder hat ihr bisher so viel Kummer bereitet wie Herma seit Monaten. Und Herma ist in ihrem innersten Wesen doch gut. Das weiß die Mutter. Jetzt aber ist ihr Kind ganz Sturm. Die linde Hand der Mutter, die helfen und führen möchte, stößt es trotzig von sich. Mit Füßen tritt es der Mutter blutend Herz. Kind! Du bist krank. Du leidest an dir selbst. Doch heute kann ich es dir nicht ersparen, die wilde Rebe deines Herzens mit scharfem Messer zu schneiden …
„Mama!“ Christl fliegt der Mutter um den Hals. „Sei nimmer traurig, Mama! Schau, ich werde dir ganz bestimmt nie so viel Verdruss machen wie Herma. Ich will immer ganz brav sein!“ Frau Veronika drückt ihre Kleine stumm ans Herz. Nach einem Atemzug sagt sie leise und fest: „Christl, bete für Herma!“
Spät abends. Alles ist zu Bett. Nur die Mutter noch steht vor ihrer Tochter.
„Wie oft schon hab ich es dir in Güte gesagt, Herma, du mögest Vernunft annehmen. Heute muss ich dich vor die letzte Entscheidung stellen: entweder fügst du dich der Ordnung deines Elternhauses oder — hier ist der Koffer …“ Die Achtzehnjährige ballt heimlich die Faust, kneift die Lippen zusammen, Feuer rast durch ihre Adern — — „Den Koffer!“ will sie trotzig hinausbrüllen. Einen Augenblick. Sie hat sich wieder. Steht stumm. Nachgeben? — Nein! Aber: fort?! — Jetzt? Die Mutter braucht mich. Die — M-u-t-t-e-r … Trotzig wirft sie den Kopf zur Höh’ und kalt klingt es: „Ich bleib!“ Dreht sich und ist — draußen. Da steht sie nun. In der mondhellen Nacht. Halb verärgert, halb siegbewusst krampft sie die Faust: „Nur einmal noch wird deine Sichel sich zum Kreise drehn, dann bin ich — frei! Wenn Karneval durch unsere Lande zieht … juchhe!
Herma kann beides: Nächte in schallendem Jubel durchtanzen; sie kann aber auch — verbissen schweigen und — sich fügen. Fügen? Zum Lachen! Nein! Ein Beugen ist das nicht! Nur ein Warten in Fieberglut …“ Sie fröstelt. Minuten später liegt sie wohlig eingekuschelt in ihren Decken. Zwei Monde nur …
„Du! Ließ da heute einer die Zeitung auf dem Ladentisch liegen; ich las in fettgedruckten Lettern: Worte einer berühmten Tänzerin. Die Leute brauchen Erholung am Abend; sie brauchen Farbe, Freude, Erregung… und der übliche Tanz erfüllt alle diese Forderungen restlos… verschafft den ausgehungerten Sinnen Befriedigung.“ — „Prima, Sieglind! Du! Das solltest du der Herma vorlesen. Die Gans! Ich hätte nicht einmal zum Scheine nachgegeben. Zum Tanz wär ich gegangen! Mir hätte die Mutter sagen können, was sie wollte; aber — ich habe ja schon lange keine Mutter mehr —.“ „Hilda, meinst du, ich habe nicht mein Möglichstes getan, die Herma wieder zu uns herüberzukriegen? Doch sie will nicht immer den Streit im Hause und darum verbeißt sie es ein paar Wochen. Die kommt sicher wieder. Unterdessen, Hilde, nur weiterschwingen! Was kümmerts uns, ob die da in der Kirche Advent oder Ostern feiern? …“
Ein schneidiger Kerl, dieser Hans! Und wie kräftig er die Ruder schlug! Und dann — als sie beide an der schmalen Lehne lagen — süßes Schaukeln im Spiel der abendlichen Flut… Fahr auf mich zu, du kleiner Kahn. Nimm mich mit — zu ihm!
H-a-n-s !
Man sagt, Träume seien Schäume. Ich finde, die Filme sind es auch: Träume, süße, verlockende Träume! Und wenn ich meine Arme nach ihnen ausstrecke, zerplatzen sie ins Nichts wie die Seifenblasen meines kleinen Bruders. Und trotzdem will ich sie haben, die Filme, jetzt erst recht. Verweigert man mir den Tanz, trink ich das Kino. —
Noch hatte sie der Schlaf keine Stunde umfangen, fährt Herma schon wieder aus ihren Kissen hoch: H-a-n-s! — ——
In der Nacht ist er ihr Traum und tagsüber sucht sie seinen Namen an den Kinoplakaten. O, wenn sie Filmschauspielerin wäre! Doch sie ist nur ein Mädchen aus dem Dorfe. Zwar „aus besserem Haus“, wie die Leute sagen; aber — ach, ihr Herz ist ja so durstig, ihr Wesen wachsende Glut …
Es ist am Abend des andern Tages. Herma kommt wieder aus dem Kino. ‚‚Guten Abend, Fräulein Müller! Darf ich —?“ Er reicht ihr die Hand zum Gruß und bietet seine Begleitung an. Traumverloren stimmt Herma zu. Einen Blitzzuck lang überrinnt sie das Schämen; doch sie schüttelt es ab wie Regentropfen von ihrem Wettermantel. Herr Purkart ist keiner vom Dorfe. Um so interessanter. Und fesch ist er und eine feine Art hat er, wie im Film der — Hans …
Am nächsten Abend treffen sie sich wieder und nach jeder Kinovorstellung geht man langsamer nach Hause. Bald brennt Herma auf den Heimweg mehr als auf den Film.
Daheim schlendert das Mädel an der Arbeit vorbei. Merkt es nicht, wenn die Mutter ernst und besorgt ihrer Tochter nachschaut. Merkt es nicht, dass ihre kleinen Geschwister in kindlich-frohem Leuchten Weihnachtsseligkeit erwarten. In jeder Christnacht lagen Geschenke aus Hermas Hand unterm Lichterbaum. Mit viel Liebe hatte sie für jedes eine Freude bereitet, für Vater, Mutter und Geschwister. Wenige Tage noch, dann ist Heiliger Abend. Herma aber hat diesmal nichts zu schenken. Keine Gabe und auch keine Sonne hat sie. Eiserne Krallen schlugen um ihr Ich. Und hinter diesem Panzer wogt und stürmt es, schlagen Flammen hoch und fahren Blitze nieder. Hermas Weihnacht ist stürmisches Dunkel.
Und ihr Stürmen fegt über die wartende Saat im Herzen ihrer Lieben daheim, streift über Schneefelder durch die Nacht zu dem, der ihr Sinnen mit dunkler Glut berauscht. Ihre Weihnacht kann nur bei Purkart sein …
Die Mutter lässt es nicht zu.
Als um die Mitte der Heiligen Nacht die Glocken das Gloria künden, schmollt Herma im Düster ihrer Kammer.
Dunkle Nacht, wildes, wehes Herze …
Fortsetzung folgt
Quelle: „Tanz und? – Aus dem Leben der Jugend“ – Hedi Schobel – 1948