Tanz und? – Teil 2 von 4

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Längst haben die drei Könige ihren Stern von Haus zu Haus getragen und ihr Lied gesungen. Die Tage aber sind kalt geblieben. Unter den Füßen knirscht der Schnee und der schmale Streifen Mittagssonne vermag kaum den Frost zu lindern. Was macht das auch? Man hat sich durch harte Kriegsjahre Schneeschuhe gerettet und trägt den letzten warmen Mantel. So eilt man ruhig und sicher dem Haus der Sehnsucht zu — — —
Jeder Abend umfängt sie dort in glosendem Schein. Alle drei. Auch in Herma brandet nur noch die eine Glut: der Tanzsaal! Bloß fatal, dass sie nie allein gehen darf. Immer schickt Mutter ihren älteren Bruder mit. Nie darf sie länger als bis zwölf Uhr dort sein. Und Hilda und Sieglinde tanzen durch, bis die Morgennebel ihre Schleier um die Sterne hüllen. Zum Ärgern! Diese Bemutterung! Und doch: besser so, als gar nicht. So schlau sind wir Mädel auch, dass wir immer noch eine heimliche Minute finden, wenn unser Herz es fordert.
Purkart ist fort. Musste mit dem Flüchtlingstransport in seine Heimat zurück. Herma fand Ersatz. Jeden Abend neue Abwechslung! Ob das nicht herrlich ist?! — — —
Und tanzen, tanzen!

Hilde und Herma gehen mitsammen nach Hause. Aus dem Geratter der Fabrikmaschinen die eine, vom Einkaufe die andere. Müdigkeit hängt schwer im Antlitz beider. Mehr von den tanztrunkenen Nächten als von der Arbeit. „Hilda, fehlt dir was?“ Wie ein oberflächlicher Hauch von Teilnahme kommt es aus Hermas Mund und liegt doch etwas drin in dieser Frage, das in wärmere Tiefen reicht. „Ha, frag noch,“ lacht Hilde, „du weißt es ja so gut wie ich, woher das kommt. Doch hör’, das will ich dir verraten: seit der letzten Woche hab ich ein verflixtes Stechen im Rücken — weiß der Kuckuck, was das ist!“ „Stechen? — Wohl etwas verkühlt, Hilde. Warmhalten, einreiben und Hustentee trinken! Wird schon wieder besser werden!“ „Denk ich auch! Wir sind doch noch jung. Servus, Herma!“ Sie trennen sich.

Der Föhn unserer Alpen braust durch den schneeigen Tann und in tosendem Rauschen stürzen die Wasser zu Tal. Letzte verschlafene Schneefetzen zerrinnen im erwachenden Zauber des Vorfrühlings. Am Waldrande auf sonniger Halde gucken tiefblaue Leberblümchen aus dem braunen Geblätter des Vorjahres. Frühlingsknotenblumen glocken über die Wiesen und in den Gärten brechen gelbe und weiße Krokusse aus der Erde.

Ein linder Abend ist’s. Der sinkenden Sonne rotgoldener Flimmer zittert über dem erweckten Land.
Im Hauch des Windes liegt der Duft feuchter Scholle. Auf dem Dachgiebel singt die Amsel ihr erstes Lied. Durch diesen jungen Frühlingsabend wandern zwei Mädchen. Die in der Gretelfrisur ist etwas nachdenklich. Über der schlanken Gestalt der lichtblonden Sieglind hängt es wie dunkle Dämonie. Durch ihr bleiches Gesicht wühlt ein hässlicher Strich. Dann wieder zuckt es aus ihr wie ein Schrei aus Einsamkeit und Not. Plötzlich lacht sie wild auf und ihr Erzählen stockt. „Ha, ha, was liegt auch daran?! Eine Pille mehr oder weniger — ein paar üble Stunden und — ich bin der Last wieder los! Bin wieder frei für neue Vergnügen! …“ 
„Sieglind!“ Herma ruft es und ihr ist es, als brächen aus Tiefen empörende Fluten zürnend heraus. Das Entsetzen packt sie, würgt sie an der Kehle. Sie wendet sich ab. Kopf und Hände hängen wie eine Trauerweide. Sie weiß selbst nicht, wie ihr wird; sie spürt nur auf einmal einen unsagbaren Ekel gegen das Wesen neben ihr. Und kann es doch wieder nicht glauben. Kopfschüttelnd stößt sie’s nochmals langsam hervor: „S-i-e-g-l-i-n-d-e!“

„Jetzt tu doch nicht so, Herma! Ein Mädel von heute weiß sich zu helfen… Und meinst du, deswegen gäbe ich die Tanznächte auf? O du, was weißt du von den letzten Stunden ins Morgengrauen, den schönsten einer wilden Nacht — — —!“ Und wieder hat sie das süße Lächeln jenes hässlichen Dämons im blassen Gesicht.
Soll ihr dieser Kniff nicht gelingen, in Hermas Seele das letzte Gute zu zerstören? Soll Herma wirklich ihren lockenden Fängen entgleiten? In süßer Schale hat sie ihr das Gift gereicht. Was wird sie tun? Herma ist Leben, ist Glut und lodernde Flamme. Das weiß Sieglind. Und kann es nicht sehen, dass aus den Augen dieses Mädchens noch immer etwas verborgen strahlt, das sie selbst schon längst mit überlegenem Lächeln zertreten hat. —
Herma steht noch immer abseits, schaut nach den letzten versinkenden Purpurwellen hinterm westlichen Gebirg. Schwebt dort nicht jene empor, von der die Mutter so Hohes sprach? Sie, die Erhabene, die Einmalige, die jungfräuliche Mutter des Allerhöchsten? Und — wie sagte doch die Mutter? Wir Mädchen dürften — ihre — Schwestern — sein …

Sie kann es nimmer zu Ende denken. Abgrundtiefe Gegensätze starren sie an. Aus dem quälenden, dunklen Wirrwarr ihrer Gedanken aber ist ihr eines klar: was diese hier tat, ist Unrecht, schweres Unrecht, denn es ist nie erlaubt, ein Menschenleben, auch nicht in seinen kleinsten Anfängen, zu vernichten. Kurz, aber schmerzlich sagt sie: „Gut Nacht, Sieglind“, und geht feldeinwärts nach Hause. Traurig, sinnend …

Fortsetzung folgt

Quelle: „Tanz und? – Aus dem Leben der Jugend“ – Hedi Schobel – 1948

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