Schließlich ist noch über das rechte Maß der dritten Funktion der Bekleidung zu sprechen: ihre gesellschaftliche Rolle in Form von Schmuck und Kennzeichnung.
II.3.1 Die Kleidung als Zierde
Erwägen wir zunächst, dass das rechte Maß, sich zu kleiden, von der Stellung der Personen,
ihrem Stand und den Umständen abhängt.
Der Stand
Der heilige Thomas erklärt: „Der [verheirateten] Frau ist es erlaubt, Mittel anzuwenden, um ihrem Gatten
zu gefallen, aus Furcht, er könnte ihr aus Geringschätzung untreu werden. […] Daraus folgt, dass eine verheiratete Frau sich schmücken kann, ohne zu sündigen, allerdings einzig und allein in Hinblick darauf, um ihrem Gatten zu gefallen.“1
Man darf sogar hinzufügen, dass das ein Tugendakt der verheirateten Frau ist. Sie ehrt so ihren Gatten und trägt zur beiderseitigen Zuneigung bei. Die heilige Johanna von Chantal lebte dieses Prinzip, wenn ihr Mann im Schloß war oder sie ihn nach Paris in die hohe Gesellschaft begleitete. Wenn er hingegen nicht anwesend war, kleidete sie sich viel einfacher.
Über Mädchen und Witwen (nach der Trauerzeit), die sich vermählen wollen, sagt der heilige Franz von Sales, es sei ihnen erlaubt, sich ein wenig mehr aufzuputzen, vorausgesetzt, dass ihre Art zu gefallen vernünftig bleibe. Aber für die Frauen oder Witwen, die nicht beabsichtigen zu heiraten, „schickt sich kein anderer Schmuck als Demut, Sittsamkeit und Frömmigkeit. Wenn sie nämlich den Männern ihre Liebe schenken wollen, dann sind sie in Wahrheit keine Witwen; wollen sie das aber nicht, wozu tragen sie dann die Werkzeuge dazu mit sich herum?“2
Sozialer Stand
Die Art des Schmuckes hängt auch vom gesellschaftlichen Stand ab. Es wäre lächerlich für schlichte Leute, große Ausgaben für ihre Bekleidung zu machen, selbst für ihre Festtagskleidung.
Die Umstände
Zu den Umständen schreibt der heilige Franz von Sales:
„Man zieht sich an Festtagen besser an und macht auch da Unterschiede nach dem Rang der Feste. Zu Zeiten der Buße wie in der Fastenzeit kleidet man sich einfacher; auf einer Hochzeit erscheint man in festlicher Kleidung, bei einer Beerdigung im Trauergewand. Hat man Audienz bei hohen Persönlichkeiten, so kleidet man sich entsprechend, zu Hause ist man einfacher angezogen.“
Er schließt diese Frage ab:
„Der heilige Ludwig fasst all dies in wenige Worte zusammen: ‚Jeder soll sich standesgemäß kleiden, damit nicht die Weisen und Guten sagen können, du gibst zu viel auf Kleidung, oder die jungen Leute, du hältst zu wenig darauf.’ Scheint aber den jungen Leuten das Schickliche zu wenig, dann halte man sich an den Rat der Weisen.“
Die Sünden
Man kann hier durch Unterlassung sündigen, indem man sein Äußeres durch das Tragen schmutziger oder zerschlissener Kleidung vernachlässigt: Das ist eine Beleidigung dem Nächsten gegenüber und ein Mangel an Ehrerweisung, die wir unserer eigenen Person schulden. Im Gegenzug kann man mit einer übertriebenen Pflege aus Eitelkeit sündigen, indem man zu viel Geld dafür ausgibt oder seine Zeit damit verliert.
II.3.2 Die Bekleidung als unterscheidendes Kennzeichen
Schließlich ist über das zu wahrende Maß zu sprechen, das die Rolle der Kleidung als unterscheidendes Merkmal betrifft. Das ist ein sehr wichtiger Aspekt, an den wir heute kaum noch denken. Ich erinnere an den vorhin angesprochenen Grundsatz: Die Kleidung ist Zeichen dessen, was man ist.
Der Grundsatz
Eine Gesellschaft setzt sich aus sehr verschiedenen Gliedern zusammen. Das macht gerade ihren Reichtum aus. Die Harmonie dieser Glieder untereinander macht ihre Schönheit aus. Die Kleidung soll diese soziale Ordnung, diese Hierarchie, diese unterschiedlichen Funktionen offenbaren. Früher z. B. hatte jede christliche Stadt ihr eigenes Gewand. Die Frauen hatten eine eigene Kopfbedeckung, die ihre Herkunft erkennen ließ. Auf dem Dorfe herrschte praktisch eine Einförmigkeit in der Kleidung, ein wenig wie früher unter den Kindern derselben Familie. Diese Einförmigkeit hatte den Vorteil, die Eifersucht, die übertriebene Sorge für die eigene Kleidung zu vermeiden. Sie ließ weniger die Vermögensunterschiede in Erscheinung treten, die in einer christlichen Gesellschaft kein bedeutsamer Bestandteil sein dürften. Das, was sichtbar sein muss, sind die unterschiedlichen Aufgaben, die Beschäftigungen.
Außerdem ist noch eine weitere wichtige Maßregel einzuhalten: die Unterscheidung zwischen Mann und Frau. Von dieser heiklen Frage ist im zweiten Teil die Rede.
Die Sünden
Man kann gegen die Sittsamkeit sündigen, indem man die Kennzeichen einer gesellschaftlichen Hierarchie ablehnt. Wenn eine Person von Würde in Alltagskleidung auf die Straße geht, verletzt sie ihren sozialen Stand. Wenn jemand sich derart kleidet, dass er einem sozialen Umfeld zugeordnet wird, das nicht das seinige ist, dann ist das lächerlich und eine Art Unwahrheit.
Wenn eine Frau sich wie ein Mann kleidet, so ist das ein (heutzutage zweifellos nicht immer bewusstes) Zeichen der Revolte gegen die von Gott eingerichtete soziale Ordnung.
1S. Th. II-II, 169, 2.
2Hl. Franz von Sales, Philothea, Dritter Teil, 25. Kapitel.
Quelle: Pater Raymond OP – dreiteilige Predigtreihe – 2010
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