Die Neugierde

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So lobenswert und nützlich die berechtigte Wissbegierde ist, so gefährlich und schädlich ist die Neugierde. Sie ist eine unordentliche, übertriebene Begierde, unnütze, für dein Alter unpassende Dinge, besonders auch die Angelegenheiten anderer zu erfahren. Leider sind neugierige Kinder selten wissbegierig im guten Sinne, was an sich schon ein Nachteil für sie ist; doch wie viele andere Nachteile und schlimme Folgen könnte man aufzählen! Neugierige Kinder sind gewöhnlich zerstreut und nachlässig in allem, was ihre Pflicht betrifft, weil sie sich mit so vielen unnützen und gefährlichen Dingen beschäftigen und ihren Geist so damit anfüllen, dass kein Raum mehr für gute und notwendige Dinge darin bleibt. Sie verlieren überaus viel Zeit, um die Neuigkeiten und Nachrichten von jedermann zu sammeln, und werden oft neidisch und eifersüchtig auf andere und unzufrieden mit ihrem eigenen Schicksal.
Wie oft bereitet sich der Neugierige die peinlichsten Verlegenheiten! Stelle dir ein Kind vor, das überrascht wird in dem Augenblicke, wo es, sich ganz sicher glaubend, das Ohr an ein Schlüsselloch hält, um zu hören, was im Zimmer gesprochen wird, wie es nun vor Scham errötet und nicht weiß, was es sagen und tun soll.
Ein Sprichwort sagt:

„Der Horcher an der Wand hört seine eigne Schand!“

Der Neugierige ist jedem lästig durch seine hundert vorwitzigen, unbescheidenen Fragen.
Er möchte alles haargenau wissen, die Tatsachen, ihren Grund, ihre Folgen und die kleinsten Umstände.
Oft ist er listig wie ein Fuchs und klug wie eine Schlange und weiß bis ins tiefste Innere anderer zu dringen, um ihnen, fast ohne das sie selbst es bemerken, Gedanken, Meinungen, Befürchtungen, Wünsche, Hoffnungen usw., die sie geheim halten wollen, förmlich zu entwinden. Es gibt nichts Lästigeres
als diese Leute; man kann sich nicht genug vor ihnen schützen.
Die Neugierde führt oft
zum Ungehorsam und durch diesen zu den schlimmsten Folgen. Wie viele Kinder haben schon ihre Neugierde mit dem Leben büßen müssen, weil sie an eine verschlossene Flasche, an eine geladene Waffe rührten, an die zu rühren man ihnen verboten hatte!

Oft aber kostet die Neugierde mehr als das Leben des Leibes, sie kostet nicht selten sogar das der Seele. Es gibt vom Teufel selbst eingegebene Bücher, deren er sich bedient, um noch gute, unschuldige Seelen
zu vergiften und zu verderben. Zuweilen ist dieser Tod plötzlich, oft aber geht ihm eine langwierige,
jedoch tödliche Krankheit voraus. Damit du sicher bist, mein liebes Kind, dass du nie solche Bücher liest,
bitte ich dich, so dringend ich kann, nie ein Buch, eine Schrift, eine Zeitung ohne die Erlaubnis deiner Eltern oder Lehrer zu lesen. Öffne sie nicht einmal, denn es kann geschehen, dass ein schöner Titel dich glauben macht, der Inhalt könne nur gut sein. Verlass dich nicht darauf, denn wie in einem schönen Körper eine abscheuliche Seele verborgen sein kann, wie kostbare Kleider ekelhafte Wunden bedecken und
süße Früchte tödliches Gift enthalten können, so, kann auch der schönste Titel die abscheulichsten Gedanken und Ratschläge verbergen.

Es kommt auch vor, dass Kinder ihrer Mutter oder Erzieherin Fragen stellen, auf die diese nicht antworten oder keine genügende Erklärung geben will. Die kleine Neugierige geht dann von einem zum andern und wiederholt ihre Frage, bis sie jemand gefunden hat, der sie zu befriedigen sucht, der aber gewiss viel weniger imstande ist, sie zu belehren, als eine kluge Mutter oder Lehrerin. So geschieht es, dass sie oft falsche und schlechte Begriffe bekommt, die in der Folge den größten Schaden anrichten können. Gewöhnlich glauben die Kinder, auch noch die Mädchen deines Alters, dass die Dinge, die man ihnen noch nicht mitteilt oder erklärt, und die Bücher, die man ihnen nicht zu lesen erlaubt, viel interessanter und unterhaltender seien als die erlaubten. Das ist ein großer Irrtum, und je mehr du, liebes Kind, im Leben fortschreitest, desto mehr wirst du Gelegenheit haben, selbst zu erfahren, dass alle diese dir so interessant scheinenden Dinge durchaus nicht außergewöhnlich und merkwürdig sind. Schon in deinem jetzigen Alter weißt du Dinge, die man dir als sieben- oder achtjährigem Kinde nicht mitgeteilt hätte. Findest du jetzt etwas Sonderbares dabei, und verstehst du nicht, warum es unnütz gewesen wäre, dir vor der Zeit davon zu sprechen? Die Bücher, die dich heute unterhalten, hätten dich früher gelangweilt, weil du sie nicht verstanden hättest. Es gibt Arzneien, die die Krankheiten der Erwachsenen heilen, die aber auf Kinder deines Alters tödlich wirken würden. So ist es auch mit den Kenntnissen; solche, die Erwachsenen nützlich und notwendig sind, können für Kinder sehr schädlich sein. Kann das Kleid einer Dame von einem kleinen Mädchen getragen werden? Wäre die Nahrung, die du zu dir nimmst, einem ganz kleinen Kinde heilsam? Können die Spiele, die dich sehr unterhalten, ein ganz kleines Kind amüsieren? Ebenso ist es mit allem, was man dir jetzt noch nicht sagt. – Wenn du den Unterschied, den man zwischen Erwachsenen und Kindern macht, in Bezug auf Kleidung, Nahrung, Arbeit und Spiel verständig findest, warum willst du ihn nicht verstehen, wenn es sich um andere Dinge handelt?

Hat der Heiland anfangs zu seinen Aposteln gesprochen wie später, als er sie schon jahrelang unterrichtet hatte? Wenn er ihnen z. B. schon in den ersten Tagen gesagt hätte: „Wisset, dass ihr, um selig zu werden, mein Fleisch essen und mein Blut trinken müsst,“ hätten sie ihm wohl dieselbe Antwort gegeben wie später? Und selbst als der Heiland seine Apostel verließ, nachdem er sie schon jahrelang unterrichtet hatte, konnte er ihnen noch nicht alles sagen, sondern er wies sie an den Heiligen Geist und sprach: „Ich habe euch noch vieles zu sagen, aber ihr könnt es noch nicht fassen, der Heilige Geist wird es euch lehren.“ So ist auch der gelehrteste und heiligste Mensch nicht imstande, die Dinge zu fassen, die Gott uns eines Tages im Himmel offenbaren wird.

Deshalb, liebes Kind, unterwirf dich einfach denen, die dir vorgesetzt sind, und suche nicht, von der Neugierde getrieben, bei denen Belehrung, die weder den Beruf noch das Geschick dazu haben.
Du wirst immer früh genug die traurige Wirklichkeit dieses elenden Lebens kennenlernen.

Quelle: „Gedanken und Ratschläge zur Beherzigung für die weibliche Jugend“ – 1927 – Clara Britz – S. 245 – 250

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