Die älteren Geschwister und die Erziehung

  • Beitrags-Kategorie:Erziehung / Familie / Kinder
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Die Eltern sollen wohlbedacht sein, ihr erstes Kind recht gottesfürchtig zu erziehen. Das ist ein guter, durch die Erfahrung bewährter und von allen verständigen Eltern angewendeter Kunstgriff. Die gute Sitte,
die die Eltern dem Erstling anerziehen, überträgt sich von diesem auf die Nachgebornen; sie wirkt
wie ein Grundton. Der Einfluss der ältern Geschwister auf die jüngern ist größer, als man gewöhnlich glaubt. Fromme ältere Geschwister ziehen auch ihre kleinen Brüderchen und Schwesterchen durch
Wort und Beispiel zur Frömmigkeit hin.

Im Jahre 1878 feierte im Tirolerlande ein einfacher Bauer seine goldene Hochzeit und hatte
die Ehre und Freude, an diesem Tag 12 wohlerzogene Kinder mitsamt den Enkeln um sich gesammelt zu sehen. Alles verwunderte sich darüber und ein Gast fragte über den Tisch
den Jubilar, wie er es angefangen habe, alle seine Kinder so gut zu erziehen, dass auch nicht eines aus der Art geschlagen habe. Der glückliche Vater gab zur Antwort: „Man muss nur das erste Kind recht gut erziehen, dann erziehen die übrigen einander selber.“
Wetzel, Der Mann, S. 56.

Der große Pädagoge Dr. Fr. Förster (Jugendlehre, S. 96f) betonte nachdrücklichst, „dass die Eltern sich
viele Mühe ersparen könnten, wenn sie die älteren Geschwister ein wenig mehr zur Erziehung anstellen wollten, was vielleicht oft viel wirksamere Beeinflussung verbürgt, als es diejenige ist, die von der
älteren Generation kommt. Auch kann man auf diesem Umweg wieder sehr gut auf die älteren Geschwister einwirken, ihnen ihre Verantwortlichkeit zum Bewusstsein bringen und vieles mit ihnen besprechen,
was scheinbar für die jüngeren bestimmt ist, in Wirklichkeit aber auch für sie selbst gilt“.

Ein Reisender, erzählt: Es war in Villach in Kärnten. Da stand ich am Fenster und schaute hinab auf den fließenden Brunnen unter mir. Ich sah, wie zwei Mädchen, Kinder von ungefähr sieben und zehn Jahren, mit dem Wasser spielten. Nun das ist nichts Besonderes. Aber was geschah nun? Die Mädchen spielten ganz gemütlich fort, da entschlüpft auf einmal dem kleinern im kindlichen Geplauder ein Fluch, ein halber nur, mehr nicht. Das größere Mädchen aber sieht gar ernst und traurig drein, als wäre ihm etwas recht Unliebsames begegnet, droht mit dem Finger und fängt nun an, dem Schwesterchen eindringlich den halben Fluch vorzuhalten.
„Das ist Sünde, dein Schutzengel hat es gehört und weint und wird’s dem lieben Himmelvater erzählen.“ Mit diesen und ähnlichen Worten belehrte das fromme Mädchen die kleine Sünderin. Da lies diese ihr Köpflein hängen, fuhr ganz nachdenklich im Wasser herum, und das Weinen war auch nicht mehr weit. Darauf sagte die ältere Schwester wieder: „Jetzt geh und bitt Gott den Fluch ab, dass er dich nicht strafe.“ Und dabei nahm sie die rechte Hand der Kleinen, die sich mit der linken Hand und der Schürze eine Träne aus dem Auge wischte, zeichnete ihr damit ein Kreuz auf die Stirne und betete mit ihr ein Vaterunser. Dann aber sagte sie noch einmal ganz ernst: „So, jetzt tu es nie mehr!“ Und das Spielen mit dem Wasser ging weiter schön ist der
klare Himmel und schön ist die reine Lilie, aber schöner noch die Kinderseele, die auch am Schwesterchen oder Brüderlein keinen Flecken der Sünde dulden will.
Schutzengel, 1878, 2.

Die Verwendung der ältern Geschwister bei der Erziehung der jüngern Geschwister ist auch aus dem Grund nahe gelegt, weil sich die Eltern wegen der Vermehrung der Familie nicht mehr so viel mit jedem einzelnen abgeben können, wie es beim Erstgebornen der Fall war. Sind die ältern Geschwister gut erzogen,
so werden diese sich um die Erziehung ihrer jüngern Bruder und Schwestern schon deshalb recht sorgfältig annehmen, um den lieben Eltern eine Freude zu bereiten.

Die Sache muss dann freilich richtig angegriffen werden. Förster gibt darüber recht praktische Winke.
Man kann nicht zu seinem jüngern Bruder sagen: „Komm her, ich will dich erziehen, hier hast du eine Ohrfeige fürs Lügen und da eine fürs Naschen.“ Man braucht sogar vielleicht eine größere Kunst als
die Eltern; denn man muss sich den Respekt erst mühsam erwerben, während er den Eltern von Natur gezollt wird. Darum ist es zunächst Hauptsache, dass die ältern Geschwister nicht gleich damit anfangen, dass ihnen die jüngern gehorchen sollen. Damit verdirbt man sich von vornherein das Spiel. Die jüngern argwöhnen dann, es komme den älteren bloß darauf an, zu kommandieren und König zu spielen, und dazu wollen sie sich nicht hergeben. Nein, sie müssen sich bei ihnen als Freunde anmelden und dann so mit ihnen umgehen,
dass sie schließlich ganz von selbst gehorchen.

Die Hauptsache beim Erziehen ist überhaupt nicht das Tadeln und Schelten, sondern das Erleichtern des Weges zum Guten. Man muss im andern den Wunsch erregen, das Rechte zu tun. Aufrichten muss man ihn, nicht niederschlagen. So ist’s auch mit den schlechten Gewohnheiten. Ein Beispiel. Wenn die ältern Geschwister ihren jüngern Bruder beim Naschen ertappen, so ist es keine Erziehung, wenn sie ihn „Schlecker“, „Naschkatze“ nennen. Da denkt er höchstens: „Gut, bin ich das, dann bin ich’s eben und werde mich auch so betragen.“ Nein, die ältern Geschwister müssen in seinem Innern Hilfskräfte erwecken gegen seine Begehrlichkeit. Sie müssen in ihm das Verlangen nach Selbstbeherrschung erzeugen.

Ein recht schwieriger Fall ist es, wenn jüngere Geschwister ins Lügen kommen. Aber gerade ein Fall für die ältern Geschwister. Denn die Lügen kommen oft aus Furcht vor dem, was die Eltern sagen werden.
Da ist nun nichts wichtiger, als dass sich die ältern Geschwister das volle Vertrauen bei den jüngern erwerben, sodass sie ihnen nichts verschweigen. Sie dürfen die jüngern Geschwister nicht verächtlich behandeln und den Verkehr abbrechen, wenn sie gelogen haben, sondern müssen sie erst recht ans Herz nehmen und so tun,
als handle es sich bei der Lüge um ein Unglück, das beide Teile getroffen hat, und sie suchten jetzt zusammen einen Ausweg, wie es künftig zu vermeiden ist. Das schlimmste ist, in solchem Fall etwa zu sagen: „Jetzt glaub, ich dir nichts mehr“, nein, im Gegenteil. Vertrauen ehrt. Das Ehrgefühl ist eben das einzige Rettungsseil,
an dem sich ein Mensch emporziehen kann, und wenn man das abschneidet, so fällt er eben ins Wasser.

Gegenüber kleinern Schwächen und Unarten ist auch immer die Hauptsache, dass man nicht schilt und tadelt, wenn die Unart da ist, sondern lieber lobt und ermutigt, wenn einmal das Richtige getan wird.
„Begnadet ist jeder, der kleinere Geschwister zum Erziehen hat. Er ist viel, viel reicher an Freude, als einen eigenen kleinen Garten zu haben. So einem Menschen zum Wachsen zu helfen, ihm die schlechten Triebe wegschneiden, ihm guten Boden, Sonne und Wasser schaffen – und dann sehen, wie sich die Seele entfaltet – etwas Schöneres gibt es nicht.“

„Nichts geht über die gute Erziehung der Kinder; sie soll der Anfang, die Mitte und das Ende
aller Elternsorgen sein. Glücksgüter sind trügerisch und hinfällig; die gute Erziehung ist ein
unvertilgbares, göttliches Gut.“ Plutarch, der heidnische Weltweise.

„Die Tugend kann dem Kind nicht angelernt, sondern muss ihm angewöhnt werden.
Alle Erziehung ist Gewöhnung. Die Gewöhnung aber beruht auf Übung.“ Karl Kehr.

 

Quelle: „Die christliche Familie“ – P. Konstanz Rudigier – 1920 – P. Cyprian Fröhlich O. Cap.

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