Die Langeweile

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 Der Blitzzug von Berlin nach Hamburg legt die 285 km betragende Strecke in 3 Stunden und 32 Minuten zurück. (Dieser Text wurde 1921 geschrieben) Das ist uns aber noch zu langsam, denn auf andern Bahnen werden Versuche mit einer Lokomotive gemacht, die 120 km in der Stunde durcheilen kann. Man sieht wohl, dass wir den Wert der Zeit zu schätzen wissen, ja dass man große Summen und viel Mühe und Fleiß aufwendet, um die schnellen Stunden der dahinrollenden Zeit zu benützen: nichts scheint dem rastlosen Zeitgeist ferner als jenes Gefühl des träge und schleppend in endlosen Minuten dahinschleichenden Pendelschritts der Langweile, und doch fährt sie so schnell als wir.

Wenn du hineinschauen könntest durch die vorüberlaufenden Spiegelscheiben in den luxuriös ausgestatteten Salonwagen, so sähest du vielleicht einen vornehmen Mann, bequem ausgestreckt in den weichen Polstern, aber mit allen Zeichen der Ungeduld und des Überdrusses die Fahrt des Blitzrosses durch die einförmigen Gelände der norddeutschen Ebene verfolgend. Bald nimmt er ein Buch mit dem verdächtig bunt schillernden Einband der sog. Eisenbahnlektüre, um es dann bald wieder hinzuwerfen, bald schaut er, die Stationen vergleichend, in das Kursbuch, dann zieht er die Uhr heraus: die Zeitungen sind längst durchflogen, die Zigarre schmeckt nicht mehr, die Ausstattung des Wagens hat er bis zum Überdruss gemustert – eine öde, peinigende Langweile gähnt ihn an und er sie.

Wenn ihr die wettergefärbten Seeleute der Nordsee fragt, die da über das Geländer des Hafendammes gelehnt stundenlang hinausstarren über die endlose, von Wogenkämmen gekräuselte Fläche, ob sie sich nicht langweilen, sie werden euch verwundert anschauen und nicht wissen, was die Frage bedeutet. Auch der Schäfer weiß es nicht, der Tag für Tag, vom Morgengrauen bis zur scheidenden Sonne bei seiner Herde steht und keine andere Abwechslung kennt, als die ihm der Himmel in Sonnenschein oder Regen sendet. In der Natur gibt’s keine Langweile, und die Geschöpfe draußen wissen nichts von ihr. Der Storch langweilt sich nicht, wenn er mit sinnigem Ernst stundenlang den Sumpf betrachtet, und auch die Eule nicht, die im hohlen Baume blinzelt. Sie erfüllen ihren Daseinsberuf nach den ihnen gegebenen Gesetzen, und darin finden sie ihre Befriedigung. Die Langweile aber ist eine Krankheitserscheinung, die sich nur am Menschen, und zwar am kranken oder doch kränkelnden Menschen findet, nicht am gesunden Naturmenschen.

Was ist Langweile? Beschäftigungslosigkeit? Das ist nicht genug. Zeitüberdruss? Unzufriedenheit mit sich und seinem Tun oder viel mehr Nichttun? All das genügt nicht: Die Lang–Weile ist ein Unbehagen über die gegenwärtige Lage, eine Unzufriedenheit und ein Hadern mit der zögernden Stunde, ein träges, unbefriedigendes Nichtstun und ein Armutszeugnis für unsere geistige Dürre. Sie ist ein krankes Weltkind, gelähmt an allen Gliedern und voll nervöser Verdrießlichkeit – krank im Blut, das in den Adern stockt. Ein verwöhntes, verzärteltes Kind der Laune, „blasiert“, d. h. überdrüssig, sich selbst und andern zur Last – mehr zu bedauern als zu verurteilen. Die Langweile ist ein Kind des Müßiggangs, eine welke Treibhauspflanze der Kultur; ich glaube nicht, dass sie in der „ungebildeten“, natürlichen Einfachheit des Menschenlebens gedeiht, wenigstens nicht in dieser charakteristischen Widerwärtigkeit des Auftretens. Vielleicht weil sie aus einem Bedürfnis nach Beschäftigung, ja oft aus einer Übermüdung oder Überreizung durch ein beständig wechselndes, äußeres Anregen des Geistes bei innerer Leere hervorgeht. Bei uns langweilen sich schon die Kinder, wenn sich nicht beständig etwas Neues bietet, und vor lauter Menge zerstreuender Beschäftigungen seufzen sie betrübt: „Mama, ich weiß nicht, was ich anfangen soll!“ Das wird man draußen auf dem Lande bei den bedürfnislosen Kindern der Bauern kaum finden, wiewohl heutzutage die Kolporteure der Aufklärung auch dahin den Weg finden und ihnen mit der Übersättigung ihrer geringen geistigen Bedürfnisse alsbald auch die Langweile bringen.

Der Kaufmann oder Industrielle, der von früh bis in die Nacht in aufreibender Tätigkeit seinen Geschäften nacheilt, wird die Achseln geringschätzig zucken, wenn wir ihm von Langweile sprechen: dazu hat er keine Zeit! Auch der Mann der Wissenschaft, gewohnt, den Geist in die wichtigsten Fragen der Zeit zu vertiefen, lächelt nur über den Gedanken an die geistlose Krankheit der Langweile. Aber legt sie nur auf das Krankenbett, lähmt die fleißige Hand, dass die Feder ihr entfällt, entzieht dem einen die Börsenberichte, dem andern seine Bücher, und alsbald wird das Gespenst wie ein tückischer Alp auf ihrem Bett sitzen und sie anglotzen. Bei dem Geschäftsmann geht’s damit noch rascher: er kannte ja nichts anderes als die zeitlichen, materiellen Interessen des Tages; aber auch der Gelehrte fühlt mit der müden Erlahmung des Geizes alsbald den Überdruss der erzwungenen Untätigkeit. Die Umgebung beider hat es zu büßen; denn ihrer Verdrießlichkeit kann man nichts recht und ihren krankhaften Launen nichts nach Wunsch machen.

Somit käme die Langweile nicht nur von der Trägheit oder oberflächlichen Vieltuerei Bei den gewerbsmäßigen Tagdieben versteht man sie ja, sie sind Schmarotzerpflanzen der zivilisierten Gesellschaft, Drohnen im Stock der fleißigen Arbeitsbienen, ohne die Berechtigung dieser im Haushalt der Natur; sie verschwenden in sündhafter Weise das kostbarste Geschenk Gottes, die Zeit, und bereiten sich ein schreckliches Gericht über die Brachlegung ihrer geistigen und körperlichen Fähigkeiten. Über nicht nur die angeborne oder anerzogene Trägheit, nicht nur die vornehme Geringschätzung der unwiederbringlichen Stunden erzeugen die ansteckende Pest der Langweile in Haus und Familie; denn sie kann, wie wir sahen, auch durch einseitige – Überbeschäftigung . und durch eigenwillige und stolze Selbstgenügsamkeit gezüchtet werden. Gewiss wird eine lebhafte Fantasie nicht. leicht von der Langweile überwunden, aber ganz sicher vor Lähmung und Versiechung ist auch sie nicht. Gott nimmt die von ihm gegebenen, aber nicht in seinen Dienst gestellten Kräfte – und der niederschlagende Überdruss an sich selbst tritt ein!

Wir möchten also glauben, dass die Langweile, wie alle Laster und Fehler, eine Folge und Strafe eines glaubensarmen, religionsträgen Gemütes ist, recht eigentlich eine Gottlosigkeit oder doch Gottentfremdung. Denn wo Gott wohnt und thront, da hat dies Gespenst nicht leicht Zutritt: mit wahrer Frömmigkeit ist es unvereinbar – einer Seele, die vom Heiligen Geiste erfüllt und erleuchtet ist, wagen die Fledermäuse nicht zu nahen.

Es wird nicht schwer sein, dies zu beweisen.

Der erste Grundsatz christlichen Glaubens ist der Wandel in Gottes Gegenwart: die Gottesfurcht. Gott vor Augen und im Herzen haben, das heißt aber, mit den staunenden Augen des Glaubens seine unendliche Größe und Vollkommenheit bewundern; das heißt in dankbarer Liebe seine unbegreifliche Güte und Weisheit anbeten; das heißt mit ihm verkehren, dessen Umgang nichts Rauhes und Hartes, nichts Bitteres und Verdrießliches hat; das heißt von ihm, so oft wir zu ihm aufblicken, neue Anregungen und Gnaden empfangen; durch ihn erquickt, gestärkt und belehrt zu werden. In ihm erkennen wir alle Dinge, betrachten alle Schönheit in Natur und Gnade, trinken aus dem unerschöpflichen Born seiner Wissenschaft, ohne je gesättigt zu werden: da gibt es keinen Überdruss und keine Langweile. Und selbst wenn er Leiden über uns verhängt, sie kommen von ihm, und wir küssen die Hand, die uns schlägt. In christlicher Geduld besitzen und beherrschen die Rinder Gottes ihre Seelen, und der Stachel des Überdrusses kann sie nicht verwunden.

Die Langweile ist eine Frucht sündhafter Trägheit oder sündhafter, weil gottentfremdeter, ungeregelter Tätigkeit. Sie ist keine Sünde, aber die Mutter vieler Sünden; denn sie ist die fruchtbare Disposition (Seelenstimmung oder richtiger Verstimmung) dazu. Der Müßiggang wird durch den Gärungs– oder Fäulnisprozess der Langweile ein fruchtbarer Zuchtboden für alle Laster.

Man sucht sich die Zeit zu vertreiben, das ist schon ein bezeichnender Ausdruck: die Zeit, ein unwiederbringlich vorübereilendes Gut Gottes, in ihrem Lauf zu beschleunigen, so rasch und unbemerkt als möglich entgleiten zu lassen. Etwas derber sagt man auch: die Zeit totschlagen. Es ist dies eine traurige Wahrheit. Mit albernen Reden, törichten Spielen, sinnlichen Reizmitteln, kurz mit eiteln, wenn nicht schon sündhaften Zerstreuungen wird die Zeit, von deren Minuten einst jede einzelne unsere Anklägerin sein wird, verschüttet, wie wenn man ein Fass voll des kostbarsten Weines auslaufen lässt.

Und trotz all dieser Giftmittel lässt sich die Langweile nicht töten, sondern blickt höhnisch lächelnd zu den Fenstern herein auf die übernächtigen, müde gelachten Gesichter; sie sitzt ihnen im Kopf und im Herzen und krallt sich nur immer fester, je mehr man sie verscheuchen will. Darum greift man zu immer schärferen Mitteln und verstärkt die Dosis, bis das Maß übervoll ist. Missmut und Kleinmut, Übermut und Zornmut, Neid und Streit, Wut und Blut, das sind Kinder der Langweile, auch Verarmung und Versumpfung in Elend und Verzweiflung. Es füllen sich aber die Gefängnisse und Irrenhäuser mit Opfern der Langweile, und die Kerker der Ewigkeit wissen davon zu erzählen!

Es ist aber genug der traurigen Bilder! So weit kommt’s, Gott Dank, nicht so leicht, wenn wir nur den Kampf mit der Langweile, die ja in ihrer Jugend noch eine harmlose, nur etwas verwahrloste Person ist, nicht scheuen. Arbeit und Gebet sind die unfehlbaren Mittel zur rechten Selbsterziehung: Bete und arbeite, das ist der goldene Spruch, der wie ein Schlachtruf gegen alle bösen Geister gebraucht werden muss. Die Arbeit stählt Leib und Geist und bewahrt sie gesund und jugendfrisch – aber sie muss geregelt werden und auf Gott gerichtet sein durch das Gebet, darf die Schwungkraft der Seele nicht in Sklavenfesseln legen, sondern muss Gott dargebracht werden als ein freies Opfer, das seinen Lohn nicht hienieden, sondern droben erwartet, in der Ewigkeit.

Quelle: „Unsere Schwächen“ – P. Sebastian von Oer O. S. B. – 1921

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