Tanz und? – Teil 3 von 4
„Nein, Schwester, nein! — Noch nicht! — Wenn — ich — wieder — gesund — bin — — —.“ Trockener, bellender Husten reißt ihr Reden ab. Die Schwester reicht ihr die Spuckschale, stützt sanft mit Kissen den Kopf. Dann sinkt die Kranke müde zurück, schließt die Augen. Der Schwester Blicke aber folgen sorgen schwer den keuchenden, rasselnden Atemstößen der jungen Patientin. Es ist die Abteilung der Schwerkranken, die Schwester Seraphine in der Lungenheilstätte anvertraut ist. An viel Menschenleid und Schmerz und Not ist sie schon gestanden. Nie aber teilnahmslos. Immer hat Schwester Seraphine eine milde Hand, die erleichtert, einen verstehenden Blick, der beruhigt, ein liebes Wort, das tröstet. So viel feine Mütterlichkeit strahlt aus ihrem weißen Schleier gottgeweihter Jungfräulichkeit. Für sie ist es schönste Lebensaufgabe, sich in dienender Liebe an die Brüder und Schwestern des Gottessohnes zu opfern. Leicht ist es nicht immer; doch sie weiß, wo sie ihre Kraft holen darf: bei ihrem Herrn und Gott im Tabernakel und Sakrament. Wie ging auch heute wieder ein Wirbel durch den Tag: drei Sterbefälle, fünf neue Einlieferungen! Die Krankenabteilung so überfüllt! Und dazu der Personalmangel! Es ist zum Weinen erschütternd, wie selten sie geworden sind, die edlen, hochherzigen Menschen, die tiefdenkenden, feinen Mädchen, die sich um Christi willen dem Dienst der Nächstenliebe weihen! Schwer ist der Beruf, ja; aber trotzdem: herrlich! —
Nein, sie will, sie darf nicht ermüden. So sitzt Schwester Seraphine auch jetzt nach harter Tagesmüh am Bette ihres jüngsten Sorgenkindes. Durch ihre schmalen Frauenhände rinnen die Perlen des Rosenkranzes und aus ihrer Seele flammen die Ave in himmelstürmender Glut. Für dies Kind, dessen Leben nur noch ein letztes Flackern ist, und das es selbst nicht wahr haben will.
„Schwester! Die — A-m-s-e-l — — !“ Das Mädchen reißt die Augen auf, dreht mühsam den Kopf zum Fenster. Draußen taucht ein föhniger Märzabend in das Glühen der versunkenen Sonne. Durchs offene Fenster dringt der Amsel Lied und vom nahen Walde strömt würziger Tannenduft.
„Schwester,“ sagt das Mädel nochmals müde, „Amsel, Melodie — Musik und — T-a-n-z! O, wann wieder — Tanz — — —?“
„Kind!“ entschlossen fasst die Schwester die Hand der Sterbenden und schaut ihr mit mütterlicher Güte tief und ernst ins Auge: „Kind! Gott will nicht Ihr Unglück. Er will Ihnen seinen Frieden schenken. Hilda, ich will Ihnen nicht weh tun; aber ich musste es Ihnen schon gestern sagen: Gott ruft nach Ihrer Seele. Sie wissen um Ihren Zustand. Ich bitte Sie um Ihrer Seele willen — —“
Da fährt die Kranke wieder auf: „Leben will ich, leben! Und nicht sterben! Noch nicht achtzehn Jahre bin ich! Schwester! Schwester! — L-e-b-e-n — — -—!“ Sie kann nicht weiter, ist zu müde. Wie ein Alpdruck liegt die Sorge schwer auf Schwester Seraphine. Hilde hatte ihr vor Tagen von den dunklen Wegen, die ihr junges Leben gegangen ist, erzählt und sie weiß: so kann das Kind vor dem Richterstuhl Gottes nicht bestehen. Hilda aber will nichts wissen von Priester und Sakrament. Nicht aus Hass gegen die Kirche, sondern in der Angst vor dem Sterben wehrt sie sich mit letzter Anstrengung gegen die Erkenntnis ihres verlöschenden Lebens. Die Schwester wacht und betet. In der Hauskapelle vor dem Tabernakel kniet der Krankenseelsorger, bereit für jeden Augenblick. Die Stunden rücken gegen Mitternacht. Da — plötzlich wirft es die Fiebernde empor — rot quillt es aus ihrem Munde — Blutsturz! — Schwester Seraphine hilft. Ruhig, besonnen, ihr Herz aber zittert: Herrgott, hilf! Sie drückt den Knopf. Die diensthabende Nachtschwester ist im Nu zur Stelle. „Bitte, rasch den Hauskaplan!’‘ Kaum eine Minute ist verstrichen, da salbt der Priester des Herrn Augen, Mund, Nase, Ohren und Hände der Kranken. Er spricht an Gottes Statt bedingungsweise die Lossprechung über die ringende Seele. Der Priester reicht ihr das Kreuz. Die Sterbende zuckt zusammen, schaut dann mit weit geöffneten Augen auf das Kreuz und haucht: „Mein — Jesus — Barmherzigkeit — —!“ In Schwester Seraphine bricht es erleichternd auf: Gott sei Dank! Ein Reueakt! Gerettet! — Der Priester kniet und betet die kirchlichen Sterbegebete. Hilda wird ruhiger. Noch ein langer Blick auf Schwester Seraphine, zum Priester, dann innig und ergeben auf das Kreuz ihres Erlösers — ein letzter Stoß aus ihrer brechenden Lunge — Hildas Seele ist in der Ewigkeit. — —
„Herr, gib ihr die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte ihr…“ beten Priester und Schwestern.
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Vierter Fastensonntag. Herma steht an der Bahre ihrer Kameradin Hilda. Das Schweigen des Todes, die Starre der Verblichenen graben sich wie Krallen um ihr Herz. Ein Etwas schnürt ihr den Atem ab, droht sie zu erwürgen. Sie steht in der Stille der Totenkammer und weiß nicht, wie ihr geschieht … Das Weihwasser sprengt sie, dann greift sie rasch nach der Tür. Draußen fragt sie:
„Schwester, stimmt es: galoppierende Schwindsucht?“ „Ja“, erwidert die Angeredete ernst, „durch starke Verkühlung und —“ das Erschüttern bebt durch ihre Worte: — „Fräulein Herma, wie erschreckend nahe waren hier: Tanz und — Tod …“
Dem Mädel gibt es einen Riss. Sie prallt zurück, drückt noch einmal die Klinke, steht wieder vor dem wächsernen jungen Körper im Totengewand — Schwester Seraphine lässt die Ergriffene allein. Wo im Schmerz Gott zur Seele spricht, trete der Mensch in Ehrfurcht zurück.
Fast eine halbe Stunde ist verronnen und Herma steht noch immer. Weiß von nichts mehr um sich her. Hört immer nur: T-a-n-z und T-o-d—
Plötzlich durchfährt es sie in eisig kaltem Blitz: Wie? Wenn ich jetzt hier läge? — Hebt sich nicht der zarte Körper da vor ihr auf dem Totenbett und ist es nicht die Stimme von drüben, die sich bleischwer in ihre Seele senkt: „Herma, leb so nicht weiter!“ Da hält sie’s nimmer aus. In rasender Eile treibt es sie hinaus — — fort — — fort — —
Wie sie sich wieder findet, sitzt sie erschöpft auf einem Baumstumpf im nahen Walde. Schon flimmern die ersten Sterne und der Mond wirft sein Silber durch den Tann. Da schleicht auf schmalen Pfaden ein Mädel wie gebrochen dem Elternhause zu.
Karfreitag. Die Leute aus dem Dorfe gehen in Trauerkleidern zum Gotteshause. Die hohen Fenster sind mit schwarzen Tüchern verhangen. Über dem geheiligten Raume liegt die Weihe der Grabesstille. Im Presbyterium ruht, in Blumen und leuchtenden Grabkugeln ehrfürchtig gebettet, der Leichnam des Herrn. Kerzenschimmer zittern an den gotischen Spitzbogen empor und rinnen wie stilles Weinen an den Kreuzrosen herab. In Andacht knien die Gläubigen. Selbst der harte Bauer, bei dem sich in manche Sonntagsmesse Hofgeschäfte einschleichen, ist heute ernst und gesammelt. Ist es doch der große Trauertag des christlichen Volkes und der Kirche. Der Priester hat die Kanzel verlassen. Er steht auf der Stufe des Altares und nimmt die ergreifende Zeremonie der Kreuzenthüllung vor. Ecce lignum Crucis… Seht das Holz des Kreuzes …! —
In einer Bank dort kniet eine jugendliche Gestalt, das Gesicht in die Hände vergraben, das Denken noch ganz gefesselt von den erschütternden Worten der Predigt. Die Seele liegt hingeworfen am Blutpfahl auf Golgatha. Christi Tod — Sterben des Gottessohnes in furchtbarer Marter am Kreuz — — für uns Menschen —. So viel ist dem Herrn eine Seele wert! — Eine Seele? — Deine Seele! — Jawohl, meine Seele — — — Und was hab ich mit ihr getan? — „Quäl’ dich nicht so ab! Jugend braucht Freude …“ zischt es irgendwo in ihrem Innern giftig empor. Freude?! — Keine Mäntelchen mehr, Herma, sei ehrlich! Wenn man dem Herrgott die Türe verriegelt und mit der Ausgelassenheit davonrast, wenn man in schäumendem Übermut die lockenden Giftbeeren pflückt und von ihrem Safte trinkt, ist das nicht die wahre Freude! Echte Freude trägt GOTT im Herzen. Mag ich auch närrisch tollen, nur keine Sünde darf geschehen, dann ist auch der bunteste Karneval harmlos. — Meine Vergnügen aber waren nicht mehr harmlos. Ich habe meine Seele im Dunkel vergessen und ließ mich treiben vom Wirbel flatternden Leichtsinnes. Bis Du, o Gott, mich gerüttelt hast, —o, jene drei Worte aus dem Munde der Krankenschwester und die — Totenkammer — —! Mich schaudert noch — und doch: ich danke Dir! Siehe, ich lasse mich finden. Ich komme. Komme zu Dir, gekreuzigter Gott. O, wasch ab alle Irrung und Schuld meiner Seele! Aus Deinem göttlichen Erlöserblut lass sie rein erstehn zu neuem Leben!
Alleluja! Christus lebt! Mächtiges Orgelbrausen jubelt es hinaus in den strahlenden Ostertag. Durch die weit geöffneten Portale strömt Weihrauchduft. Der Festgottesdienst ist beendet, die Gläubigen gehen leuchtenden Auges nach Hause. Auch über dem Antlitz Leidgeprüfter schimmert ein Strahl Osterfreude. Ostern ist das Hochfest froher Hoffnung. So wie der Herr vom Grab erstand, wird des gläubigen Christen Schmerz und Not zu ewiger Verklärung mit seinem vergeistigten Leibe auferstehen. Unter den Gnadbeschenkten dort geht eine. Ihr Schreiten ist königlich, ihr Antlitz sieghaft-froh: Herma! Gestern ist sie im Sakrament vor Gottes Stellvertreter gekniet und hat Ordnung gemacht mit ihrem Leben. Ganz Ordnung. Nun freut sie sich im Ostermorgen ihres neuen jungen Lebens.
Fortsetzung folgt
Quelle: „Tanz und? – Aus dem Leben der Jugend“ – Hedi Schobel – 1948
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