Überdenken wir daher, was im Menschen vor sich geht, wenn eine Versuchung gegen
das sechste Gebot an ihn herantritt und wie es kommt, dass er ihr unterliegt.
Jede Versuchung stellt den Menschen vor eine Entscheidung, die vom Willen
getroffen wird. Dieser wählt aber nicht blind, er lässt sich von Motiven bestimmen
und wählt das, was ihm vorteilhafter zu sein scheint. Je wirksamer daher Motive sind,
je anschaulicher sie sich dem Geiste darstellen, je mehr Vorteile sie zu bieten versprechen,
desto leichter sind sie imstande, ihn für sich zu gewinnen. Die Entscheidung hängt wohl meistens davon ab, wohin der Geist seine Aufmerksamkeit richtet.
Der Mensch kann frei wählen, welcher Seite er Beachtung schenkt.
Die andere Seite schwindet dann, vielleicht erst nach hartem Kampf, immer mehr aus
dem Gesichtskreise und man folgt jenen Motiven, für die man sich entschieden hat.
Wir müssen hier einen Umstand wohl beachten, der uns das Verständnis für den gewaltigen Einfluss der Gedankenwelt eines Menschen auf sein Handeln erschließt. Wir können uns dies am besten klarmachen, wenn wir uns die Bedeutung des „Unterbewusstseins“ vor Augen führen.
In unserem Geiste gibt es eine Menge von Ideen, Vorstellungen, Erinnerungen, deren wir uns nicht fortwährend bewusst sind. Sie schlummern gleichsam im Unterbewusstsein. Es bedarf nur irgendeiner Anregung, eines Wortes oder Blickes und diese Ideen werden geweckt und
steigen aus dem Unterbewusstsein empor: wir werden uns ihrer bewusst. Es wird z.B. irgendwie
der Gedanke an Weihnachten geweckt. Sogleich kommen wir in die fröhliche Weihnachtsstimmung, der Christbaum, die Krippe, die Geschenke, Weihnachtsfeiern und -lieder steigen vor unserem Geiste empor. – Ganz anders wirkt das Wort: Feuersbrunst. Erinnerungen an Brände, die wir miterlebt, werden wach; wir empfinden wieder die Aufregung, in der wir waren, hören gleichsam die Signale der Feuerwehr und das Rasseln ihrer Wagen.
So geht es auch auf sexuellem Gebiete. Sobald irgendwie der Gedanke an etwas, das sich auf dieses bezieht, angeregt wird, steigen aus dem Unterbewusstsein notwendig die hiermit verknüpften Ideen, Auffassungen, Vorstellungen und Erinnerungen ins Bewusstsein empor
und stehen vor unserem Geiste. Wir wissen aber, dass solche Gedanken für jeden Menschen gefährlich sind, weil sie in ihrem Verlaufe leicht ein unerlaubtes Verlangen wachrufen können. Deshalb darf man sich nicht unnötig in ihnen aufhalten. Es ist auch bekannt, dass sie recht lästig werden können und sich dem Geiste ungestüm aufdrängen, obschon man sich ihrer zu erwehren sucht. Für die leicht erregbare Jugend bilden daher alle derartigen Gedanken an sich schon eine große Gefahr. Diese wird gewaltig gesteigert, wenn diese dazu von unsittlicher, die Sinnenlust mächtig reizender Art sind.
Hinzu kommt dann noch, dass diese Vorstellungen leicht die sinnlichen Triebe erregen und Organempfindungen wachrufen, die dem Menschen bereits fühlbar die Lust vorführen,
die er genießen kann, wenn er ihr nachgibt. Die Leidenschaft ist erwacht und drängt im Verein mit den sinnlichen Phantasiebildern zum Nachgeben.
Die Versuchung ist da. Der Wille muss sich entschließen. Auf der einen Seite lockt mit aller Macht die Sinnenlust und drängt das durch sie im Körper ausgelöste Verlangen nach Befriedigung; auf der anderen Seite steht Gottes Verbot.
Nun verstehen wir, wie verheerend die Folgen sind, wenn die Gedankenwelt der Jugend mit hässlichen, niedrigen, lüsternen Auffassungen und Bildern angefüllt ist, die im Unterbewusstsein schlummern, durch zahllose Reize angeregt immer wieder vor ihrem Geiste emporsteigen und
im Körper die Leidenschaft entfesseln, während auf der anderen Seite nur das ernste: „Du darfst nicht!“ steht. Hier lockt Freude, Annehmlichkeit, Genuss, wonach zugleich der Körper leidenschaftlich verlangt; dort gewahrt sie nur die Forderung des Verzichtes. Hier reizen anschauliche, fühlbare, farbenprächtige Motive, die sich dem Geiste ungestüm aufdrängen; dort warnen rein geistige, fernliegende Gründe, auf die der Geist nur infolge kraftvollen Bemühens seine Aufmerksamkeit richten kann. Der Jugendliche braucht nur den auf ihn einstürmenden Gedanken und Regungen keinen Widerstand entgegenzustellen, und der Fall ist da. Um Sieger zu bleiben, muss er nicht nur den Ansturm der sinnlichen Vorstellungen abschlagen und ihre Lockungen überhören, sondern auch das Verlangen des Körpers zurückweisen und oft die sich gleichsam von selbst entwickelnden Vorgänge, welche die Sünde einleiten, durch seinen Willen aufhalten und zurückdrängen, wobei sich in der niederen Natur das Gefühl des Unbefriedigtseins einstellt und aufs neue zum Nachgeben lockt.
Anfänglich gelingt es gewöhnlich dem Jugendlichen, infolge der religiösen Erziehung und Einstellung, der Versuchung Herr zu werden. Mit einer Entscheidung ist es aber nicht getan. Mit ungeschwächter Kraft stürmen bei der nächsten Gelegenheit wieder die Gedanken, Bilder und Empfindungen auf ihn ein. Das Beispiel anderer erschüttert seinen Widerstand und fordert zur Nachahmung auf. Verführer schildern ihm immer wieder den Genuss, den die Sünde bietet, in den herrlichsten Farben. Ihr spöttisches Lachen und Höhnen sucht seine letzten Bedenken zu zerstreuen. Der Anblick verführerisch gekleideter Personen oder pikanter Bilder reizt seine Sinnlichkeit stets aufs neue. Im Kino und Theater wird ihm vielleicht noch in der anschaulichsten Weise vorgeführt, wie er es anstellen muss, um die Annehmlichkeiten eines unerlaubten Verkehrs zu genießen, und es wird als selbstverständlich hingestellt, dass man sich solche Genüsse nicht entgehen lässt. Beim Tanzen verkostet er schon zum Teil die sinnlichen Empfindungen, welche die Vereinigung mit einem anderen Körper zu bieten vermag. So umschmeichelt und umlockt die Sinnenlust mit tausend Reizen den Willen, während zugleich die Leidenschaft ungestüm an ihm zerrt und ihn fast gewaltsam zum Nachgeben fortzureißen sucht. Oft ist es der Alkohol, der den letzten Widerstand bricht, indem er den Verstand und das Gewissen betäubt und im Körper das Verlangen auslöst, sich auszutoben.
Ist endlich die Burg der Herzensreinheit gefallen, so sucht die Sinnenlust sie in
ihrem Besitz zu behalten. Der Arme, der einmal ihre Annehmlichkeiten verkostet, verlangt nach ihrer Wiederholung. Die Erinnerung an den Genuss reizt aufs neue
das Verlangen danach. Der Wille ist nicht mehr ungebrochen. Das Hochgefühl
des Intaktseins, des Unentweihtseins ist vorbei. Der Gedanke: „Es ist ja doch schon einmal geschehen; einmal mehr oder weniger macht nichts!“,
schiebt alle moralischen Bedenken oft beiseite. Erschütternd klang mir einmal das Geständnis: „Es ist entsetzlich schwer zu verzichten, nachdem man gekostet hat!“
Quelle: „Um die Reinheit der Jugend – 1927 – Schilgen Hardy S. J.- S. 28-31
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