Vom Sinn des Kleides
Sehr geehrte Frau Luginbühl!
Es hat mich schon ein wenig überrascht, daß Sie als Frau mich, den altmodischen Kapuziner, über den Sinn der Körperkleidung befragten. Hat doch kürzlich noch einer auf dem Bahnhof Spiez beim Anblick des Kapuziners ausgerufen: «Lueg da, eine us em Alte Testament!» … So altmodisch sind wir. Und ausgerechnet von unsereinem wollen Sie wissen, was der Christ von der Kleidung zu halten habe.
Aber vielleicht denken Sie, ich hätte den nötigen Abstand von den Dingen, die da in Frage stehen.
Und in einem gewissen Sinne muß ich Ihnen rechtgeben.
Ich darf darum hoffen, daß Sie und Ihre Töchter, aber auch ihr Gatte und die großen Söhne meine Ausführungen mit Verständnis lesen. Als ich letzten Sommer am Landessender über den Sinn des Kleides sprach, habe ich aus allen Teilen des Landes, von Frauen und Männern, Protestanten und Katholiken so viel zustimmende Briefe bekommen, daß ich es für das Einfachste halte, die Gedankengänge, die jener Radiopredigt zugrunde lagen, wieder aufzunehmen. Wegleitend sollen dabei sein:
der gesunde Menschenverstand, das christliche Feingefühl und das Wort Gottes, das nach dem Psalmisten unsern Füßen eine Leuchte ist und ein Licht für unsern Lebensweg.
Darnach sehe ich im Kleide zunächst eine Hülle des Leibes, dann einen Schutz des Schamgefühls
und endlich ein Ausdrucksmittel des Geistes.
Hülle, des Leibes
Betrachten wir das Kleid zunächst als Hülle des Leibes. Der Mensch braucht diese Hülle im allgemeinen,
weil die Natur ihm auch hierin eine Arbeit und eine Aufgabe überlassen hat, die sie bei den Tieren selber erfüllt. Die Tiere kommen mit einem natürlichen Kleide zur Welt. Denken wir an das Fell der Vierfüßler
und an das Gefieder der Vögel. Und je nach Jahreszeit und Breitegrad wird dieses Kleid,
das die Natur gewoben, dichter oder dünner.
Der er vernunftbegabte Mensch muß seinen Leib selber zu schützen wissen gegen die Unbilden
der Witterung, gegen die Kälte und Regen die Hitze, gegen Regen und Schnee und schädliche Strahlen. Darum kleidet er sich anders im Winter und anders im Sommer, anders in den Tropen und anders
in der Arktis. Der arbeitende Mensch braucht das Kleid, das ihn bei seiner Beschäftigung schützt
und doch nicht hindert. Darum die verschiedenen Berufskleider. So trägt der Handwerker
sein Übergewand, die Hausfrau die Schürze, der Chirurg den weißen Mantel.
In all diesen Fällen erweist sich das Kleid als eine schützende Hülle des Körpers. Und das fünfte Gebot verlangt, daß man sich vernünftig, den gesundheitlichen Anforderungen entsprechend, kleide,
auch bei seinen Untergebenen für eine solche Kleidung besorgt sei. Von diesem Standpunkt aus
kann ich es nicht begreifen, wie Mädchen, die doch am Unterleibe so empfindlich sind, ganz kurze Röcklein tragen sollen, und wie Männer, die nicht grad ein starkes Herz haben, den entblößten Oberkörper stundenlang schädlichen ultravioletten Strahlen aussetzen. Vergessen wir nie die erste Aufgabe des Kleides: eine schützende Hülle des Leibes zu sei Aber das Kleid ist mehr als das. Es ist auch:
Schutz des Schamgefühls
Das Schamgefühl ist etwas Rätselhaftes, besonders für den, der nicht an die Bibel und an ihren Bericht
über den Sündenfall glaubt. Nach Genesis 2, 25 waren die Stammeltern im Paradiese nackt, und sie schämten sich nicht voreinander. – Schöner Zustand der Unschuld, nach dem die Menschen sich immer wieder sehnen.
Dieser Zustand wurde, zerstört durch die Sünde, den Ungehorsam der ersten Menschen.
Im folgenden Kapitel erzählt der inspirierte Verfasser, wie Adam und Eva nach dem Falle sich ihrer Blöße bewußt wurden und sich gedrängt fühlten, primitive Kleider anzufertigen,
deren sie ja bei den klimatischen Verhältnissen Edens nicht bedurft hätten.
Hier tritt das Schamgefühl zum ersten Male auf. Und seither treffen wir es immer wieder bei den Menschen, wenn auch in verschiedenen Schattierungen. Der Mensch scheut die Entblößung vor andern, sofern sie nicht notwendig ist. Sie beunruhigt ihn und beunruhigt auch andere, zumal dann,
wenn sie absichtlich herausgestrichen wird.
Es ist nicht meine Aufgabe, genau zu umschreiben, was diesbezüglich noch angeht oder nicht. Dies ist eben eine Sache des Feingefühls. Hier fehlt es, wenn man wartet, bis andere mit großer Überwindung einem zu bedeuten geben, man gehe zu weit und gebe Anstoß. So hat eine ausländische Eisenbahndirektion in einem paritätischen Lande ihren weiblichen Angestellten Anweisung geben müssen, sie sollen sich einfacher und zurückhaltender kleiden, weil bei den gemischten Arbeitsverhältnissen ihre Art, sich zu kleiden,
dem Fortgang der Arbeit nicht förderlich sei.
Nicht alle Menschen sind gleich empfindsam in dieser Beziehung. Aber gerade deswegen darf man sich nicht auf den Standpunkt stellen: » Mir macht das nichts; also macht es andern auch nichts. Der Apostel Paulus verlangt christliche Rücksichtnahme auf die Schwächern, selbst im Essen und Trinken:
Er schreibt im vierzehnten Kapitel des Römerbriefes: «Richtet euer Augenmerk darauf, daß ihr
keinem Bruder Anstoß und Ärgernis gebet. Wenn dein Bruder um einer Speise willen sich verletzt fühlt,
so wandelst du nicht mehr der Liebe gemäß. Bringe nicht durch deine Speise den ins Verderben,
für den Christus gestorben ist» (Röm 14, 13).
Genau das gleiche läßt sich auch von der Kleidung sagen. Und es werden leider viele Schwache ins Verderben gebracht durch Menschen, die zu wenig Verantwortungsbewußtsein in der Art, sich zu kleiden, an den Tag legen. Es ist oft keine böse Absicht dahinter, mehr Gedankenlosigkeit und Eitelkeit. Aber gerade diesen Gutmütigen sollte man zum Bewußtsein bringen, daß sie auch an die andern denken sollen und
an die Wirkung ihres Gehabens.
Der reformierte Pfarrer Meyer schreibt in seinem Kommentar zum ersten Korintherbrief:
«Nur Toren, Schwärmer und wirklichkeitsferne Gehirnmenschen leugnen jeden tieferen „Sinn
der kleidlichen Gebarung. In der Tat und Wahrheit bestehen tiefe Zusammenhänge zwischen Kleid
und göttlicher Schöpfung. – Gott gab dem Menschen das Auge. Nichts fesselt das Auge und nichts schmerzt das Auge mehr wie die Gestalt des Menschen. Die Gestalt des Menschen ist aber untrennbar verbunden
mit seinem Kleide. Jesus behandelt diese Zusammenhänge – nur einseitig für den Mann zugeschnitten -,
wenn er lehrt: ‚Wenn dich dein rechtes Auge zur Sünde verführt, so reiß es aus und wirf es von dir!‘ (Mt s, 29). Damit ist auch der Frau in klarer Weise geboten, daß sie in ihrer Kleidung, in ihrem Gebaren alles zu unterlassen hat, was den Mann reizt und verführt, aber auch alles, womit sie sich dem Manne
verächtlich macht durch Preisgabe ihrer fraulichen Würde.»
Diesen Worten können wir nur mit Überzeugung beipflichten. Wie oft wird die Verletzung des Feingefühls nicht nur andern, sondern auch der eigenen Seele zum Verderben. Dann erfüllt, sich das bekannte Wort:
Man wollte gefallen. Man hat gefallen. Man ist gefallen. –
Ich frage: Kann man sich nicht gefällig und zeitgemäß kleiden, ohne die gute Sitte zu verletzen, ohne sich selber zu entwürdigen und andere zu beleidigen? Sollte nicht das Ehrgefühl schon unsere Frauen und Töchter anspornen, durch die Tat zu beweisen, daß sich der Sinn für Schönheit und für Sittlichkeit
ganz gut miteinander verbinden läßt?
Der tschechische Arzt Hynek hat auf Grund wissenschaftlicher Untersuchungen am Turiner Grablinnen festgestellt, daß Christus nach grausamer Geißelung vollständig entblößt ans Kreuz genagelt wurde*.
Wie muß der Herr gelitten haben unter dieser Entblößung! Er nahm diese Qual aufsich, um Sühne zu leisten für dieunnötige und verantwortungslose Entblößung, die sich so viele Menschen zuschulden kommen lassen.
Der Christ wird das Kleid schätzen als Schutz des Schamgefühls. – Es ist aber noch weit mehr als dies, nämlich:
Ausdrucksmittel des Geistes
Das Kleid hat eine ähnliche Aufgabe wie der Leib: Es soll die sinnenfällige Darstellung einer Idee sein.
Dies wird besonders deutlich bei der Uniform. Die Uniform des Soldaten, des Berufsmannes, des Mitgliedes einer Organisation will etwas besagen und ist damit zugleich ein Bekenntnis. Sie muß in Ehren gehalten werden; denn wer das Kleid hier schmäht, der schmäht die Idee, die es zum Ausdruck bringen will.
Wie liebe ich mein Ordenskleid, die braune Kutte mit der großen Kapuze und dem weißen Strick als Gürtel! Sie ist Ausdruck der Anspruchslosigkeit, der Einfachheit und Schlichtheit, die der heilige Franziskus in sie hineingelegt hat. – Ähnlich, meine ich, sollten die Söhne und Töchter unseres Landes ihre Landestracht
auch schätzen. An der Landestracht hängt Landessitte, Treue zum Hergebrachten, Bewährten und Bodenständigen – allerdings nur dann, wenn sie mit Ernst und Würde, ohne Koketterie getragen wird;
dann aber verdient sie von allen Kreisen gefördert zu werden**.
Daß die Kleidung ein Ausdrucksmittel des Geistes ist, zeigt sich auch in der individuellen Gewandung.
Ja, hier hat der Mensch die Möglichkeit, seine persönliche Art und Gesinnung in besonders feiner Weise zum Ausdruck zu bringen, sagt doch schon der weise Sirach: «Die Kleider, das Lachen und der Gang des Menschen verraten, wer er ist» (Sir 19, 27). Das Kleid kann von einem Menschen sogar vergeistigt und durchgeistigt werden in dem Maße, daß es Teilhaber seines Geistes wird. Man stelle sich vor, was das bedeutet, wenn bei Jesus, bei Petrus und Paulus die Gläubigen nur den Saum des Gewandes berühren mußten,
um die Kraft seines Geistes zu erfahren.
In folgender Weise offenbart das Kleid besonders die Gesinnung des Menschen:
Im Kleide zeigt sich, ob ein Mensch echt sei. Wer nichts anderes scheinen möchte, als was er ist, den nenne ich
echt und wahr. Drum «wähle deine Kleider mit deinen Augen, nicht mit denen eines andern» (Penn).
«Euer Schmuck sei nicht auswendig in gekräuseltem Haar, in Goldgeschmeiden und ausgesuchtem Gewand; euer Schmuck sei der inwendige Mensch», wie, Petrus an seine Christen schreibt (I Ptr 3, 3).
Solch wahrheitsliebende Menschen, bei denen Inneres und Äußeres übereinstimmt, werden in ihrer Kleidung zwar mit der Zeit gehen, aber nie Sklaven der Mode sein wollen, nie sich von Kleiderkünstlern
etwas aufdrängen lassen, was gegen ihr innerstes Wesen wäre. Hier gilt das Pauluswort an die Korinther:
«Ihr seid teuer erkauft, werdet nicht Sklaven von Menschen» (1 Kor 7, 23).
Im Kleide zeigt sich, ob ein Mensch feinfühlend, taktvoll sei. Drum kleidet sich die Frau fraulich und
der Mann männlich. Er läßt seine Kleidung dem Ort und Anlaß entsprechen und weiß genau, daß
leichte Sportkleider nicht bei einer kirchlichen, Feier getragen werden und daß man sich in Gesellschaft
nicht gleich behaglich kleiden kann, wie allein zu Hause, daß aber auch ein Ballkleid sich von
einem Badeanzug wesentlich unterscheiden soll.
Im Kleide zeigt der Mensch auch, ob er sozial gesinnt sei. Das einfache Dienstmädchen will nicht mit der Dame des Hauses verwechselt werden. Die Dame ihrerseits vermeidet alles Protzige in der Gewandung.
Keines kleidet sich über seinen Stand, und keines bringt es übers Herz, sich fein zu kleiden und dabei
– sehr unfein – dem Schneider, der Schneiderin jahrelang die Rechnung schuldig zu bleiben.
Wie freue ich mich immer, wenn ich Menschen treffe, die sich einfach und edel zu kleiden wissen.
Auch diesbezüglich habe ich schönste Erinnerung von meiner Romfahrt im Heiligen Jahre heimgebracht. Hier konnte man sehen, wie edel, sittsam und schön zugleich die christliche Frau sich zu kleiden versteht.
Den besten Eindruck hinterließen mir die Indierinnen, die Spanierinnen und unsere Mädchen in der Landestracht, die Appenzellerinnen, Luzernerinnen, Thurgauerinnen und Aargauerinnen.
Das ist meine Ansicht über den Sinn des Kleides, geehrte Frau Luginbühl. Es ist die Ansicht
unseres Ordensgründers, des ritterlichen Franz von Assisi. Der hat seinen Brüdern den Grundsatz eingeprägt: «Soviel einer vor Gott ist, soviel ist er, nicht mehr und nicht weniger.» Würden alle auch in der Wahl
der Kleidung nach diesem Grundsatz sich ausrichten, dann wäre jedes Kleid, was es sein soll:
der Ausdruck einer wahren, sauberen, bodenständigen, mit einem Wort: der christlichen Gesinnung.
Quelle: „Vom Sinn des Kleides“ – 1951 – P. Salvator Maschek OFM
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* Vgl. Dr. R. W. Hynek, Das Antlitz Christi auf dem Turiner Linnen, Freiburg, 1950.
* * Vgl. P. Dr. Burkard Mathis OFM Cap ., Um Kleid und Tracht, Freiburg, 1946.
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