Tanz und? – Teil 4 von 4

Wie sich das trifft: greif ich im Schriftenstand unserer Kirche nach einem Heftchen, blättere — — siehe da: Die Freuden unserer Jugend! Ich wende Seite für Seite „—echte, feine Freude — — falsche Freuden — — ist der Tanz eine Freude? — —“ Das muss ich haben! Ich werfe die 40 Groschen ins Kästchen und nehme das Schriftchen mit. —

Weißer Sonntag ist heute. In unserer Pfarre feierten wir Erstkommunion der Kleinen. So irgendwie merkwürdig berührt dies meine Seele, so ganz anders als in vergangenen Jahren: die weißen, langen, wallenden Kleidchen, die Schleier, im kindlichen Kranze fein gerafft, die glücklichen Kinderaugen, ihre hellen Stimmen, die so schlicht und innig zum eucharistischen Gotte sprachen, griffen in Saiten meiner Seele, die schon lange nicht mehr geklungen hatten. —
Ich möchte heute gerne ein Stündchen alleine sein.

Nachmittag. Im Walde sitze ich. Zwischen sattgrünem Stechlaub rollt sich junger Farn aus der feuchten Erde. In Kuckucksklee und Buschwindröschen blüht goldigrot der Wachtelweizen. Und — Ruhe ist hier, Stille … Wie fein! Ich nehme das Broschürchen von heute Morgen zur Hand. Durchdenken will ich, ob das alles wahr ist. Ich lese: „— — — den Tanz derer sah ich, die nach Gemeinheit lüstern. Da packte mich der Ekel. Geile Menschen sehen und hören nichts mehr, sie schämen sich auch nicht vor Zuschauern, hässliche Gier hat sie in ihre Pranken genommen.

Ich sah den Tanz der Verliebten. Ihr Benehmen war tadellos. Sie lassen sich nichts zu Schulden kommen. Ihre innere Unfreiheit aber mutet manchmal komisch an. Sie werden fast läppisch und ihr Gesicht glänzt, als wären sie frisch mit Fett bestrichen.
Ich sah den Tanz der Vergnügungssüchtigen. Sie langweilen sich in der Welt und deshalb wollen sie sich die Nacht hindurch amüsieren. Doch wie ist das nur? Kommt mir die Welt langweilig vor, gehe ich aus ihr hinaus in die Einsamkeit. Ich stürze mich nicht in ihren Lärm; denn der erst recht führt in seinen Nachwirkungen zur Langeweile.

Und der Tanz der ungezwungenen Gesellschaftsmenschen? Sie fürchten die öffentliche Meinung und lassen sich von Sitte und Zwang zum Tanze schleppen. Sie langweilen sich; aber sie glauben, der Mode ihr Opfer bringen zu müssen. Bedauerliche Menschen, weil sie ihre Freiheit verkauft haben!
Weißt du um den Tanz der naiven, munteren Jugend? Sie hat edle Ritterlichkeit und hinreißende Begeisterung. Sie freut sich gewaltig auf einen Tanzabend; aber ihre Freude ist Jung-sein. Sie springt und hüpft und scherzt gerne, wie alles, was jung ist. Ihr Tanz ist feines, lustiges Spiel und ihr Inneres bleibt dabei unberührt. Sie tanzen wie sie Fußball spielen.
Den Tanz der Lebenserfahrenen sah ich. Es ist ihre Art, tief zu denken und ich hab nicht den Eindruck, dass sie leidenschaftlich zum Tanze gehen. Warum sie aber doch zuweilen den Tanz lieben? Vielleicht wird jeder dir eine andere Antwort geben.

Bietet der Tanz Vorzüge?
Es ist richtig, dass in der Tanzgeselligkeit ritterliche Regungen und beste Manneseigenschaften geübt und erprobt werden können. Führt der Tänzer seine Dame so, dass sie ungehindert und ungestoßen durch die Reihen sich bewegen kann, schirmt er sie vor allen unweiblichen Bewegungen, wahrt er trotz aller Annäherung beim Tanze die ritterliche Distanz, weiß er seine Blicke und Gebärden so zu zähmen, dass er in nichts gegen die weibliche Würde verstößt und zollt er seine Rücksichtnahme und Huldigung nicht der Eva, sondern der Maria in dem Bewusstsein, dass die Unberührbarkeit des Mädchens erster Beruf ist und er selbst das Stärkste und Eigenste der Frau zu festigen und zu höchster Würde emporzuführen gewillt ist … dann nenne ich das Ritterlichkeit.

Der Tanz darf also nicht um des Vergnügens willen gepflegt werden; er muss etwas anderes darstellen als ein bloßes Gezappel mit den Füßen. Dient er beim Mädel wie beim Burschen zur Stärkung und Erprobung des Charakters, dann sind es zweifellos Vorzüge, die sich nicht kurzweg zurückweisen lassen. Erste Voraussetzung ist natürlich ein gefestigter Charakter. Wer die Gefahr liebt, kommt darin um. Wird der Tanz zum Selbstzweck, hört er auf, Daseinsberechtigung zu haben.

Der Tanz, von objektiver Schau gesehen.
Der Tanz im Allgemeinen kann eine ganz harmlose Sache sein, die mit der Sünde nichts zu tun hat. Manche, die heute in reifen Jahren stehen und in ihrer Jugend gerne in ehrbaren Kreisen tanzten und deren sittliche Qualität und Gewissenhaftigkeit über allem Zweifel erhaben ist, haben versichert, dass sie ohne die mindesten Anfechtungen die Tanzvergnügen mitgemacht haben.

Wir sagten schon, dass es sehr viel auf die innere Einstellung der Tänzer ankommt; aber auch auf die Art des Tanzes. Es gibt Tänze, die an sich, wenn richtig aufgeführt, hochanständig sind. Freilich kann bei Menschen mit unanständiger Gesinnung auch der anständige Tanz in den Schmutz gezogen werden. Es gibt aber auch Tänze, deren Herkunft eine sehr zweifelhafte ist. Viele moderne Tänze haben südamerikanische Dirnen zu größten Gemeinheiten erfunden. Kein anständiger Mensch wird sich dazu hergeben, auch wenn solche Tänze in verfeinerter Form Eingang gefunden haben. Richtschnur muss uns Christen hier das Wort der Bischöfe sein: ‚Moderne Tänze, die fast alle von übelster Herkunft, die Sittsamkeit und Schamhaftigkeit bedrohen, dürfen unter keinen Umständen, auch nicht in angeblich verfeinerter Form, länger geduldet werden.‘ Freilich gibt es einzelne moderne Tänze, die anständiger sind als etwa die Walzer. Eine Sache wird nicht dadurch moralisch einwandfrei, dass viele sich dazu bekennen und dass man in der Gesellschaft nichts dahinter findet. Ein Christ muss den Mut haben, gegen den Strom zu schwimmen. Leider verliert unsere gegenwärtige Gesellschaft in diesen Dingen vielfach den rechten Blick und nicht wenige sinken zu Sklaven der Mode im niedrigsten Sinne.

Es ist außerordentlich zu bedauern, dass die Kleidung beim Tanze immer mehr Anlass zu Bedenken gibt. Die Damen reden sich darauf hinaus, dass sie von Herren nicht zum Tanze gebeten werden, wenn sie nicht in dieser Kleidung erscheinen. Es mag leider oft seine Richtigkeit haben. Jeder anständige junge Mann wird sich zum Grundsatze machen, nie eine Dame zum Tanze zu bitten, die in einem Aufzuge erscheint, der mit christlicher Sittsamkeit nicht übereinstimmt. Auch hier kann die Gewohnheit der Gesellschaft nicht unerlaubte Dinge erlaubt machen. Die Feigheit spielt auf diesem Gebiete eine überaus traurige Rolle.
Das Erlernen des Tanzes setze nie zu früh ein. Was für einen reiferen jungen Menschen ohne Schaden gemacht werden kann, ist für einen jüngeren, der kaum die Pubertät hinter sich hat, eine ganz andere Sache. Es ist auch möglich, das Tanzen ohne gemischte Paare zu erlernen. Freilich dürfte damit für die allermeisten der Tanzkurs seinen Reiz verloren haben. Beim Tanzkurs kommt es sehr viel darauf an, dass er am Abend immer zur rechten Zeit schließt und dass sich daran den Damen gegenüber nicht allerlei scheinbare Verpflichtungen knüpfen, die nicht anders gewertet werden können als Sklaverei sogenannter gesellschaftlicher Verpflichtungen.

Bei all diesen Fragen aber wird nur der den richtigen Weg finden, der über nötige Erfahrung verfügt und dem die Interessen der Seele über alles gehen.“
Sinnend schaut Herma zwischen stämmigen Fichten zum blauen Himmel: ‚Vor einem halben Jahr hätte ich über dieses Schriftchen — gelacht. Hätte seine Worte an mir abrinnen lassen wie Regen über Hausdächer … Vernunft? Mäßigung? Schranken? Was bedeuten die schon einem jungen Menschen? Jawohl. Trotzdem, sie bedeuten viel! Ich habe es eingesehen und muss dem Büchlein — rechtgeben. Ich muss und will ein frohes junges Mädel bleiben; aber ich werde meine Freude zu ordnen wissen, dass sie keine ausgelassene werde, keine, die Gottes Gebot übertritt. Meine Freuden sollen immer so sein, dass ich vor mir selbst Achtung haben kann. Bei allem jugendlichen Übermut doch fein.
Herma! Es gilt!

Vom Kirchturm schlägt es fünf. Eiligst nach Hause! Ich will das Nachtmahl bereiten, dass Mutter ruhen kann. —
Auf dem schmalen Waldweg singt die Glückliche ein Lied. Ihr ist so froh zu Mute wie den Vöglein, die im frühlichten Gezweige jubeln. Es ist reine, tiefe Freude, die durch ihre Seele strömt wie Licht. Und seine Strahlen fließen hin zum Urquell allen Lichtes, zu Jenem, der alleinig von sich sagen konnte:
„Ich bin das Licht der Welt.
Wer mir nachfolgt, der wandelt nicht im Finstern.“

Herma ist wieder die Sonne im elterlichen Hause. Ist die frohe, mitschaffende Kraft geworden, wie sie es vor einigen Jahren war. Und doch ist die Art, wie sie der Mutter an die Hand geht, anders als damals: verständiger, sicherer, fester. Sie hat ein Wissen um Ernst und Verantwortung für eine Aufgabe erobert. Im Leuchten ihres Auges liegt was von werdender Seelenreife …
Freilich liebt sie auch jetzt noch Spiel und Scherz und ihre Freude am Jungsein schwingt sich noch ab und zu in fröhlichem Tanz.
Sie weiß aber nun die feinen Grenzen zu wahren.

Sonntagnachmittags fährt sie gerne in die Nachbarstadt. Dort lenkt sie ihre Schritte die steile Straße hinauf ins Krankenhaus. Besucht Sieglinde.
Seit Monaten liegt das arme Kind dort oben, in der Abteilung der Syphilis. Schwer hat sie gelitten an den Schmerzen der Krankheit. Durch die Mittel moderner Medizin ist das Schlimmste zwar behoben worden; aber ein Defekt wird ihr bleiben. Das weiß sie. Und was litt sie erst, wenn durch das Stöhnen der Schmerzensnächte wund die Not ihrer Seele schrie …?
Nach langem, qualvollem Ringen warf sich ihre zermarterte Seele in die Unendlichkeit göttlichen Erbarmens.
In der Heimkehr zu Gott fand sie den Frieden.
Tiefe Erkenntnis hat sie der Tragik ihres Lebens abgerungen. Sie weiß jetzt, dass Maßlosigkeit zu Schaden und Unglück führt, weiß, dass auch der Tanz wohl eine Freude, nicht aber die einzige sein darf.
Gerne spricht sie bei Hermas Besuchen mit ihr über neue Wege und Ziele ihres Lebens. In Sieglindes jungen Tagen hat Leichtsinn und zügellose Lust vieles verpfuscht; es ist aber noch nicht alles verloren. Ihr Dasein kann wieder tiefen Sinn erhalten. Aus den Irrungen schmerzlich belehrt, hat sie sich den Mut erkämpft zum Aufstieg auf sittliche Höhe …

Gottes Sonne strahlt nicht nur am makellos blauen Himmel; auch aus dunkler Sündennacht und brandendem Meer der Schmerzen kann seine Gnade Menschenseelen rufen. Erlöst von den niedern Fesseln, schreiten sie in seinem Lichte kraftvoll ins neue, aufbauende Leben …

Quelle: „Tanz und? – Aus dem Leben der Jugend“ – Hedi Schobel – 1948


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