Die Alten und die Jungen

Bei vielen sehe ich ein finsteres Runzeln auf der Stirne, denn die Überschrift weckt keine lieblichen Erinnerungen und Gedanken. Aus dem Munde der Schwiegermutter höre ich harte Anklagereden wider die Schwiegertochter, die ihr Leben zum reinsten Martyrium machen soll. Und von der Schwiegertochter vernehme ich bittere Vorwürfe gegen die Eltern, die kein Verständnis für ihre Lage zeigen. Heiße Tränen fließen auf beiden Seiten; beide glauben im Recht zu sein, beide behaupten, dass ihnen Unrecht geschähe. Es ist schwer zu entscheiden, wo Recht und Unrecht liegt, weil jede Sache uns von ihrem Standpunkt aus sieht.
Man kann leicht verstehen, dass das Verhältnis zwischen den Alten und den Jungen zu Spannungen und Missverständnissen führen muss. Bisher schaltete die alte Frau als Herrin im Hause. Sie durfte alles nach ihrem Gutdünken bestimmen und ordnen. Wie sie es machte, so war es recht. Die ganze Einrichtung des Hauses trug ihren Geschmack, sie war zufrieden damit, mochte sie auch in Wirklichkeit so geschmacklos wie möglich sein. Manche Stücke waren aus alter Zeit, sie standen da wie eine lebendige Geschichte der Familie. Von jedem wusste sie zu erzählen, jedes der Dinge besaß sein Plätzchen in ihrem Herzen, es gehörte zu ihrem Dasein. Niemand sagte etwas, auch die erwachsenen Töchter nicht, die lieber ein Auge zudrückten als, dass sie die Mutter betrübten. Denn sie war Herrin, nach ihrem Willen lief das ganze Hauswesen.

Und nun kommt eine junge Frau ins Haus. Vielleicht sogar eine, die der Sohn gegen der Mutter Willen heiratete. Begreiflicherweise wird es diese hart ankommen, die junge Frau an ihre Stelle rücken zu sehen. Bis jetzt hatte sie zudem die ganze Liebe ihres Sohnes besessen, sie war seine Vertraute. Wenn er in Not und Kummer war, hat sie ihn getröstet, ihn geholfen; sie war stolz auf seine Liebe. Nun aber soll sie diese Liebe mit einer Fremden teilen. War sie bisher seine Königin, die er liebte und verehrte, so muss sie jetzt wahrnehmen, dass er seine Liebe und Verehrung zum größten Teil auf die junge Frau überträgt. Sie fühlt sich beiseite geschoben, wenn es vielleicht auch nicht der Fall ist, denn die Blicke der Eifersucht sind überscharf, und Einbildung und Eifersucht sind meist unzertrennliche Geschwister. Die Schwiegertochter übernimmt die Herrschaft im Hause, ordnet, befiehlt und wirtschaftet. Es dünkt der alten Frau, sie sei überflüssig, und das bekannte Wort: „Mohr hat seine Pflicht getan, Mohr kann gehen“, würde sich auch an ihr erfüllen. Nun fängt sie an zu grübeln, sich zu grämen, bei andern Frauen sich über die junge Frau zu beklagen. Sie wird verbittert und mürrisch, sieht sich schlecht behandelt und — die sogenannte Schwiegermutter ist fertig.

Es ist ein-uraltes Thema: der Kampf zwischen den Jungen und Alten. So natürlich es einerseits auch ist, dass Gegensätze zwischen ihnen auftauchen und bestehen, so unnatürlich ist es, dass diese Gegensätze im Schoße der eigenen Familie zu den bittersten Zerwürfnissen führen müssen. Die Alten waren doch auch einmal jung, sie sind aus der Jugend herausgewachsen. Man möchte deshalb wohl glauben, dass sie am ehesten verständen, wie es den Jungen zumute ist. Wer selber eine Zeit durchlebte, da es auch in ihm gärte und kochte, da er mit geballten Fäusten und pochenden Pulsen die Welt und die Verhältnisse nach seinem Willen zwingen wollte, sollte am besten wissen, dass jedes Alter verstanden und seiner Eigenart entsprechend behandelt sein will.
Aber leider scheint das Alter oft vergessen zu haben, wie es einst dachte und fühlte, wie es strebte und rang, wie es sich aufbäumte und versprach, nicht dieselben Fehler zu machen, wenn es einmal Jungen gegenüberstehe. Mit jedem Jahresschritt, durch den die Menschen sich von ihrem Jugendschritt entfernen, müssen sie wohl mehr und mehr vergessen, wie sie früher dachten und empfanden. Am Ende sehen sie die eigene Jugend nur noch wie aus verträumten, goldenen fernen, durch die alles Hässliche und Schlechte abgestreift, das Gute aber bis ins Reich des Idealschönen erhoben wird. : Darum reden sie auch immer so gerne von den guten alten Zeiten, die in Wirklichkeit genauso armselige Zeiten waren wie die jetzigen auch, und die Menschen von damals waren nicht sehr verschieden von den heutigen. Auch der Kampf zwischen jung und alt hat immer bestanden. Nur haben die Alten von heute auf der andern Seite gestanden.

Die Jugend hat zu allen Zeiten anders gewollt als das Alter. Ihre Ziele waren jedoch früher verschieden von denen der modernen Jugend. Denn sie wechseln mit den Zeitverhältnissen und den Bedürfnissen der Menschen. Neue Mittel und Wege werden gesucht, weil die Menschheit nicht ewig in den alten Gleisen einhertrotten kann. Das Alter dagegen ist konservativ, es möchte auf den Wegen weitergehen, auf denen es die letzten Jahrzehnte gegangen ist. Das ist leichter und bequemer, scheint sicherer und erprobter.
Weil das Alter sich im ruhigen Besitze wähnt, will es sich auch seine Stellung, seinen Einfluss nicht nehmen lassen. Es hält mit zäher Hartnäckigkeit an seinem Szepter fest, wenn es auch sieht, dass die Jugend Spielraum und Bewegungsfreiheit für sich fordert und nach Gelegenheiten sucht, wo sie ihre Kraft entfalten kann. Das vernünftige Alter weiß sehr gut, wann es Zeit ist, die Zügel der Regierung in jüngere, kraftvollere Hände zu legen und mit Ehren vom Schauplatz seiner Tätigkeit abzutreten. Ein hilfloses, und dabei sich selbst überschätzendes Alter macht einen kläglichen Eindruck, während es unsere Hochachtung verdient und erlangt, wenn es selbstlos auch dem kommenden Geschlecht etwas zu tun übrig lässt. Alte, zitternde Hände brauchen nicht mehr Zügel zu halten, wenn kraftvoll junge Fäuste sich schon, ballen, um den Kampf des Lebens an Stelle der Väter führen.

Man muss verstehen, mit Würde zu enden. So, dass alle unseren Fortgang bedauern, weil scheinbar eine Lücke gerissen wird. Es müsste denn sein, dass ganz besondere Gründe das Verbleiben auf dem Posten verlangen. Das Alter behauptet ja immer, weise zu sein; nur muss es aber verstehen seine Weisheit anzuwenden. Auch in dem stillen, heimliche, Kampf zwischen Alten und Jungen. Wie viel trübe Familientrauerspiele könnten und müssten alsdann vermieden werden; Stattdessen würde der Sonnenschein der Freude verklärend auf den alten Tagen der Menschen ruhen. Wo in den Familien ein gutes, herzliches Verhältnis herrscht zwischen alt und jung, wo die bejahrten Eltern selbstlos und vertrauend den Kindern die Regierung überlassen, da werden sie noch einmal jung, wenn sie im Kreise froher, glücklicher Enkelkinder von Liebe und Ehrfurcht umhegt werden. Die Eltern sind ja den kleinen Buben und Mädchen oft zu streng, sie haben zu viel zu denken und zu arbeiten, auf ihren Schultern lasten zu viele Sorgen, sie tragen zu schwer an der Verantwortung für die Erziehung der Kinder; aber in der traulichen Plauderecke bei der Großmutter mit dem stets sonnigen Gesicht und den nie leeren Taschen und Schubladen, bei dem zu allen lustigen Streichen aufgelegten und immer hilfsbereiten Großvater finden die Kleinen zu jeder Zeit das nötige Verständnis, wie sie glauben. Freilich, verwöhnt werden sie dabei wohl meist etwas mehr als erlaubt ist; aber tüchtige Eltern werden schon wieder die richtigen Schranken zu ziehen wissen, ohne dass sie dabei den beiden alten Leuten, die doch so namenlos froh mit den Kleinen sind, ernstlich weh zu tun brauchen.

Wo zwischen den Alten und Jungen ein gutes Verhältnis herrscht, liegt es wie heller Sonnenschein über der ganzen Familie. O, es könnte so schön sein, das Leben im Heiligtum des Hauses, wenn nur nicht die einzelnen Familienmitglieder in klaffendem Gegensatz mit zürnenden Waffen widereinander ständen, sondern gebend und nehmend, opfernd und empfangend mitsammen das Glück suchen gingen! Und in einer solchen Umgebung werden auch die Kinder mit Hochachtung und bewundernder Liebe zu den Eltern und Großeltern erfüllt, und dort nur kann jenes Kind aufgewachsen sein, das einmal zu einem Spielgenossen voll herzlichen Bedauerns sagte: „Ach, arme Trude, hast du wirklich keine Großmutter? Wie kann man denn leben, wenn man keine Großmutter hat?“

Aber zum Weinen ist es, Familien zu begegnen, wo ganze Berge von Entfremdung sich zwischen die Herzen gelegt haben, wo harte Worte und bittere Vorwürfe hin- und herfliegen, wo scharfschneidende Drohungen und Anklagen tief verwunden, wo herbe Rücksichtlosigkeiten den Eltern heiße Tränen erpressen, wo eisige Kälte eine Stimmung des Hasses und der Abneigung schafft, wo selbst die kleinen Enkelkinder schon ihre Eltern an Rohheit und Rücksichtslosigkeit gegen die alten Leute überbieten.
Die Jugend neigt ja ohnehin zur Unbotmäßigkeit, zum Alles-besser-wissen. Überall fürchtet sie, man wolle sie mit Gewalt niederhalten, man würde sie nicht emporkommen lassen. Was die Alten schufen und erarbeiteten, gilt ihnen nicht viel. Und sie denken nicht gerne daran, dass sie doch auf dem Boden stehen, den die Eltern durch ihrer Hände Arbeit erobert und mit dem Schweiße ihrer großen Mühen betaut haben.
„Vor einem grauen Haupte sollst du aufstehen“, mahnt die Heilige Schrift. Gewiss, es gibt noch viele Familien, in denen die Kinder voll Ehrfurcht gegen alte Leute erzogen werden. Aber leider finden wir auch sehr viele Familien, wo man nicht mehr Gottes Mahnung befolgt. Wenn man ihr Verhalten sieht, möchte man eher an den vom Teufel unterrichteten Schüler denken, der folgende Weisheit verzapft:

Indessen wir die halbe Welt gewonnen,
was habt denn ihr getan? Genickt, gesonnen,
geträumt, erwogen, Plan und immer Plan.
Gewiss, das Alter ist ein kaltes Fieber
im Frost von grillenhafter Not.
Hat einer dreißig Jahr vorüber,
so ist er schon so gut wie tot.
Am besten wär’s, euch zeitig totzuschlagen.

Man kann verstehen, dass darauf selbst der Teufel spottend antwortet:

Der Teufel hat hier weiter nichts zu sagen.

Der Gegensatz zwischen den Alten und Jungen brauchte wahrhaftig niemals in hartem Aufeinanderstoßen sich geltend zu machen. Nur müssten die Alten auch den Jungen ein Stück der Verantwortung abtreten, nur müssten sie zur rechten Zeit die Zügel stärkeren Händen übergeben, um für sich selber eine Atempause zwischen Zeit und Ewigkeit zu schaffen. Es täte ihnen doch auch so unendlich wohl, wenn sie noch einige Jahre ganz ihrer Seele leben könnten.

Der Gegensatz brauchte nicht zu sein, wenn die Jugend das vierte Gebot nicht vergessen würde, wenn sie die Lebenserfahrungen der Alten nicht so gering anschlagen und deren ruhige Abgeklärtheit auswerten wollte. Dann wäre das Alter schön und leuchtend wie die untergehende Sonne, die im Niedergang sich zu freuen scheint an der rüstigen Schaffenskraft der Menschen, die erwartungsvoll und tatenfroh den Aufgaben des nächsten Tages entgegengehen.

 

Quelle: „Du trägst das Glück“ – Ein Buch für Frauen und Mädchen – Joseph Lucas – 1952


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